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ANALYSE Statt angesichts der Flüchtlingskrise auf ein neues EU-Asylsystem zu drängen, hat die Kanzlerin einen nationalen Alleingang gewagt. Jetzt weigern sich die anderen Staaten, dessen Folgen mitzutragen.

ANALYSE Statt angesichts der Flüchtlingskrise auf ein neues EU-Asylsystem zu drängen, hat die Kanzlerin einen nationalen Alleingang gewagt. Jetzt weigern sich die anderen Staaten, dessen Folgen mitzutragen.

Manchem Abgeordneten wurde es warm ums Herz, als Angela Merkel und François Hollande vor gut drei Wochen gemeinsam im EU-Parlament eine Rede hielten. Sie wurden Zeugen eines flammenden Plädoyers gegen die wachsenden nationalen Egoismen innerhalb der EU, gegen neue Grenzzäune und gegen Abschottung. Der französische Staatspräsident lobte die außergewöhnlichen Anstrengungen, die Deutschland zur Aufnahme von Flüchtlingen unternehme. Was Hollande freilich vornehm verschwieg: Wenn es nach Deutschlands EU-Nachbarn geht, soll es bei dieser Lastenverteilung gefälligst auch bleiben.

Es ist das Paradox der Merkelschen Entscheidung, die deutschen Grenzen für die Flüchtlinge zu öffnen, dass sie damit einer besseren, einer europäisch organisierten Lösung womöglich dauerhaft den Weg verbaut hat. Eine vergebene Chance, denn die Aufnahmekapazität der gesamten EU mit ihrer halben Milliarde Einwohner eröffnete ganz andere Spielräume als die eines Landes mit nur 80 Millionen Menschen. Grundlage dafür wäre ein gemeinsames EU-Asylsystem. Doch die Kanzlerin hat sich fast aller politischen Druckmittel beraubt, um diese neue Politik auch durchzusetzen.

Zu groß ist der Groll. Es lässt sich schwer bestreiten, dass der deutsche Alleingang einen Bruch europäischer Regeln darstellte. Gewiss, das Dublin-Abkommen, das jenem EU-Staat, in den ein Flüchtling zuerst einreist, auch die Verantwortung für dessen Aufnahme zuweist, war angesichts des Ansturms bereits obsolet geworden. Niemand hat im Übrigen stärker darauf hingearbeitet als der ungarische Regierungschef Viktor Orbán, der zynisch erklärte, die Flüchtlingsfrage sei "ein deutsches Problem". Doch erst die unilaterale deutsche Entscheidung, die Dublin-Regeln auf syrische Bürgerkriegsflüchtlinge nicht mehr anzuwenden, hat Orbáns Drohung Wirklichkeit werden lassen.

Nirgendwo ist das Entsetzen über Merkels "Wir schaffen das!" größer - und für Deutschland politisch schwerwiegender - als in Paris. In Regierungskreisen hält man sich mit öffentliche Kommentaren zwar zurück, aber die Einschätzung deckt sich weitgehend mit der harschen Kritik, die aus der konservativen Opposition zu hören ist. Von Leuten wohlgemerkt, die sonst keine Gelegenheit auslassen, die seriöse Politik Merkels in den höchsten Tönen zu loben. Jetzt aber fühlen sie sich von ihrem Idol geradezu erpresst.

Die französischen Politiker treibt die Angst vor der Sogwirkung um, die Merkels unbedachter Lockruf an die Flüchtlinge ausgelöst habe. Seien diese Menschen erst einmal in der EU, gab auch Sarkozy zu bedenken, kämen sie sicher irgendwann auch nach Frankreich. Bisher tut das Mutterland der Menschenrechte alles, damit es dazu nicht kommt. In Calais lässt man 6000 vor dem Kanaltunnel gestrandete Flüchtlinge in einem dreckigen Slum aus Plastikplanen und Pappkartons vegetieren. In Paris und anderen Großstädten vertreibt man sie regelmäßig aus ihren Unterschlüpfen unter Brücken oder in leer stehenden Gebäuden. Die zynische Abschreckungspolitik funktioniert: Als Präsident Holland auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsansturms Busse nach München schickte, um Merkel generös 1000 Migranten abzunehmen, hatten die französischen Diplomaten größte Mühe, 600 Freiwillige für die Fahrt nach Paris zusammenzutrommeln.

Großes Bedauern hat das jenseits des Rheins mitnichten ausgelöst. Fernsehbilder von ankommenden Flüchtlingen, so die allgemeine Überzeugung, würden nur noch mehr Wähler in die Arme von Marine Le Pen, der Chefin des rechtsextremen Front National (FN) treiben. Im Dezember finden in Frankreich Regionalwahlen statt, und zwei wichtige Regionen drohen erstmals an den FN zu fallen. Schon jetzt machen französische Politiker Merkel ganz unverhohlen für den sich abzeichnenden Triumph Le Pens mitverantwortlich.

Das ist ungerecht und der Nervosität des Wahlkampfs geschuldet. Aber Frankreich ist ein Land mit hoher Arbeitslosigkeit, das heute schon jede Menge Probleme mit der völlig verkorksten Integration von Einwanderern hat. Während in Deutschland bis heute Willkommens-Komitees die Flüchtlingsbusse empfangen, gehen französische Anwohner sofort auf die Barrikaden, sobald ruchbar wird, dass Flüchtlinge einquartiert werden sollen. Ganz ähnlich ist die Stimmungslage in vielen anderen EU-Ländern, wo die Wirtschaft nicht so unverschämt brummt wie in Deutschland.

Wie hat man die Situation in Berlin nur so verkennen können? Ohnehin hat sich in den vergangenen Jahren schon viel Unmut wegen eines angeblichen deutschen Diktats in Europa angehäuft. Zu häufig haben sich die EU-Partner von Berlin überfahren gefühlt, von der Energiewende bis zur Griechenlandkrise. Das hat seinen Preis: Alle Solidaritätsappelle auf den sich hastig jagenden europäischen Sondergipfeln können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland konkrete Hilfe bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht zu erwarten hat.

(RP)
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