Mit Verlaub! Neudeutsche Großmäuligkeit made in Berlin

Bundeskanzlerin und Bundespräsident schwingen gerne den germanischen Erzieherstock in Sachen Demokratie. Aber bevorzugt nur in kleinen und mittelgroßen Ländern wie etwa Ungarn oder der Türkei.

Mich irritiert es jedes Mal, wenn Deutsche im Ausland als Schulmeister im Fach Demokratie auftreten. Zum einen haben wir unsere staatliche Ordnung relativ spät nach demokratischen Prinzipien organisiert; zum anderen vor bloß zwei Generationen unter dem Jubel zu vieler Landsleute alles, was nach Demokratie und Recht aussah, zertrampelt und zerbombt. Die bei ihrer Kurzvisite in Budapest so lehrerinnenhaft auftrumpfende Bundeskanzlerin stammt bekanntlich aus der DDR, wo sie die ersten drei Lebensjahrzehnte Anti-Demokratie miterlebt hat. Deutsch und demokratisch - in der DDR, die erst 25 Jahre tot ist, wuchs das nie zusammen. Eine Widerständlerin war Angela Merkel nach allem, was man weiß, nicht. Fehlendes Heldentum in der Diktatur darf man niemandem vorhalten; wohl aber die Lust, im Ausland als deutsche Staatspädagogin Demokratie-Noten zu geben. Der ungarische Premier Orban ist ein sich selbst so charakterisierender anti-liberaler Demokrat. Nicht einmal Merkels Vorgänger Gerhard Schröder würde ihn einen lupenreinen Demokraten nennen. Aber müssen ausgerechnet Kanzler und Staatsoberhäupter der deutschen Schönwetter-Demokratie in anderen Ländern den Erzieherstock im Tornister tragen? Nebenbei: Hat jemand je erlebt, dass Merkel als Gast der westlichen Führungsmacht den Finger erhob gegen die Todesstrafe dort oder den Völkerrechtsbruch der US-Regierung Bush/Cheney beim Überfall auf den Irak und dem Inbrandsetzen einer ganzen Region?

Gegenüber kleinen Ländern wie Ungarn öffentlichkeitswirksam die demokratische Lehrherrin hervorzukehren, aber gegenüber Riesen wie Amerika oder China mucksmäuschenstill zu bleiben - glaubwürdig ist das nicht. Ebenso wenig überzeugend erscheint Merkels Budapester Sonderpädagogik in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Denn sie ist seit bald zehn Jahren die Regierungschefin eines sich sehr wichtig nehmenden EU-Mitgliedsstaates, der alle Brüche europäischer Verträge zur Stabilität des Euro billigend in Kauf genommen, gelegentlich gar betrieben hat.

Die Reporterlegende Peter Scholl-Latour hat es in seinem letzten Lebensjahr unnachahmlich drastisch so formuliert: Wir Deutschen sollten bei Demokratie und Menschenrechten im Ausland noch für lange Zeit einfach die Schnauze halten. Schaffen wir das? Ich mag mich täuschen, aber die neue Großmäuligkeit gegenüber kleineren und mittelgroßen Ländern - man erinnert sich noch an die anmaßende Gardinenpredigt des Bundespräsidenten bei seinem Besuch der Türkei - mag doch etwas mit neudeutscher Großtuerei made in Berlin zu tun haben.

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(RP)
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