Analyse Neue Hoffnung im Kampf gegen IS

Düsseldorf · Die salafistische Miliz "Islamischer Staat" hat große Teile Syriens und des Irak in ihre Gewalt gebracht und sogar dem Terrornetzwerk Al Qaida international den Rang abgelaufen. Doch die Gruppe muss erste Rückschläge hinnehmen.

 Ein unbewachte Flagge des Islamischen Staats zwischen Kirkuk and Tikrit.

Ein unbewachte Flagge des Islamischen Staats zwischen Kirkuk and Tikrit.

Foto: afp, jml/mcp/ACR

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gestern im Bundestag als "eine der brutalsten Bedrohungen für das Leben der Menschen in Syrien und im Irak" bezeichnet. "Die radikale Enthemmung und Bereitschaft zu Morden bedroht auch unsere Sicherheit", sagte Merkel. Mehr als 200.000 Flüchtlinge aus der Region würden deshalb allein in diesem Jahr in Deutschland erwartet; kein Tag vergeht ohne neue Gräuelmeldungen aus dem Machtbereich des IS.

Inzwischen gibt es aber erste Hinweise, dass das selbst ernannte Kalifat an Grenzen stößt. Die Kurden-Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei ist dafür ein Symbol: Seit Mitte September greift der IS vergeblich an. Nach westlichen Luftangriffen und kurdischen Verstärkungen ist er nun sogar auf dem Rückzug - ein ungeheurer Prestigeverlust der angeblich unbesiegbaren "Gotteskrieger".

Durch die Bombardements vor allem der US-Luftwaffe soll die Miliz mehr als 1000 Kämpfer verloren haben, auch ihr Anführer Abu Bakr al Bagdadi wurde offenbar schwer verletzt. Während einzelne Terroristen sich in Städten und Dörfern verstecken können, sind die gepanzerten Fahrzeuge und Geschütze, die der IS zumeist von den Irakern erbeutet hat, aus der Luft gut erreichbare Ziele. Wegen elektronischer Störmaßnahmen wird die Führung der Kämpfer-Gruppen durch Funk, per Handy oder über Internet unmöglich. Größere Kampfgruppen können sich nicht mehr unbemerkt formieren, Nachschubwege sind gekappt.

Mit dem Rückzug aus der Stadt Baidschi mit der größten Ölraffinerie im Irak hat der IS eine weitere wichtige Position räumen müssen, die seine Finanzierung sicherstellte: Nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen verdienten die Terroristen mit Ölverkäufen täglich bis zu 1,3 Millionen Euro.

Die Feudalstruktur des IS gewährt den regionalen Anführern relativ große Freiheit. Im Gegenzug müssen sie durch immer neue Eroberungen Beute machen und den Erlös der Plünderungen teils an die Organisation abgeben. Jetzt stockt auch diese Form der Geldgewinnung: Die Terrormiliz kann offenbar keine neuen Geländegewinne mehr erzielen, im Gegenteil.

Die Dschihadisten sind nicht, wie es im Westen wahrgenommen wurde, praktisch aus dem Nichts in wenigen Wochen zur reichsten und gefährlichsten Terrorgruppe der Welt aufgestiegen, die dem gefürchteten Netzwerk Al Qaida den Rang abgelaufen hat. Ursprünge sieht Behnam T. Said, Kenner der Islamisten-Szene und Autor des Buchs "Islamischer Staat" (Verlag C. H. Beck), bereits in der Gründung der syrischen Muslimbruderschaft 1942 und in den syrischen Islamisten-Aufständen von 1964. Nach der Niederschlagung eines weiteren Aufstands im syrischen Hama mit Zehntausenden Toten im Jahr 1982 war die islamistische Opposition Said zufolge zunächst handlungsunfähig. Doch das Machtvakuum im religiös und politisch zersplitterten Irak und das Chaos im syrischen Bürgerkrieg nutzte die straff organisierte Gruppe in diesem Jahr zum Großangriff. Teile der irakischen Armee liefen zu ihr über, Widerstand gab es fast nirgends. Deshalb wurden die militärischen Fähigkeiten des IS zunächst überschätzt.

Inzwischen droht die Organisation, die immer wieder ihren Namen änderte, auch an ihrem eigenen Größenwahn zu scheitern: Der "Islamische Staat" wurde zuerst für den Irak und Syrien ("Sham") ausgerufen, wobei der arabische Begriff "Sham" die heutigen Länder Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Jordanien und die südtürkischen Provinzen Hatay, Gaziantep und Diyarbakir umfasst. Neuerdings prahlt der IS sogar mit Plänen zur Eroberung Nordafrikas und großer Teile Europas und Asiens bis 2019.

Ein Blick auf die Landkarte zeigt indes die Grenzen auf: Die Türkei und Israel kann der IS nicht frontal angreifen. Jordanien wird als ausreichend stabil angesehen, um ein Eindringen des IS zu verhindern. Die radikal-islamische Hisbollah, die wiederum eng mit dem Iran verbündet ist, wird eine Einmischung im Libanon verhindern. Und am Dienstag griff die Luftwaffe des syrischen Diktators Baschar al Assad direkt die "IS-Hauptstadt" Rakka im Norden des Landes an.

Die lange schwelende Rivalität um die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten sei ein Grund dafür gewesen, dass sich der Kampf gegen das Assad-Regime in einen "sektiererischen Konfessionskrieg" verwandelt habe, beschreibt es Behnam T. Said. Im Sommer war es dem IS jedoch gelungen, die zahlreichen islamistischen Gruppen wie die gegnerische Al-Nusra-Front unter sein Kommando zu bringen. Doch bleibt der Erfolg aus, kann sich diese Front schnell wieder auflösen. Die Konfliktlage bleibe unüberschaubar, "keine der Kriegsparteien kann als verlässlich oder verbündet gelten", analysiert Said.

Andere Experten bezweifeln, dass es dem IS gelingt, tatsächlich einen echten Staat aufzubauen, der seine Bevölkerung versorgen kann. Eher dürfte die Terrorherrschaft durch innere Machtkämpfe zerfallen. Auch die Bürger stehen nicht hinter dem IS: Gestern meldete zum Beispiel "Spiegel Online", dass im besetzten Mossul wegen absurder Vorschriften wie der Vollverschleierung für Ärztinnen das Klinikpersonal flüchte.

Die westlichen Staaten hindern Islamisten zunehmend daran, in die Kriegsgebiete auszureisen. Gestern wurde ein Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums bekannt, wonach terrorverdächtigen Islamisten in Deutschland der Personalausweis für sechs Monate entzogen werden kann. Trotzdem ist der Zusammenbruch des IS keine Frage von Wochen, denn noch gibt es reiche Unterstützer in den Golfstaaten.

Doch auch diese Transaktionen geraten zunehmend unter Beobachtung. Schlüsselrollen fallen dem Iran, der das Assad-Regime unterstützt, und der Türkei zu: Bei Ankara, auch im Fall Kobane zögerlich agierend, ist es noch immer ungewiss, ob es den IS mehr fürchtet als Assad oder die Kurden und seine stillschweigende Unterstützung einstellt.

(RP)
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