Paris Neue Protestwelle rollt durch Frankreich

Paris · Die Bewegung "Nuit Debout" will das politische System Frankreichs umkrempeln. Jetzt kam es erstmals auch zu Krawallen.

"Wir alle hier sind für eine bessere Welt", sagt die junge Frau vor den mehr als 100 Menschen, die vor ihr auf dem Boden sitzen an der Place de la République. Es ist die Generalversammlung, mit der jeden Abend die "Nuit Debout" beginnt, jener basisdemokratische und inhaltlich buntgescheckte Bürgerprotest mitten in Paris. "Nacht im Stehen" heißt das Ereignis übersetzt, auch wenn die meisten Teilnehmer auf Kartondeckeln vor den Rednern auf dem Boden kauern.

Seit zwei Wochen treffen sie sich hier jeden Abend ab 18 Uhr, einige Hundert, am Fuß der Mariannen-Statue, wo noch immer die Blumen für die Toten der Terroranschläge im vergangenen Jahr liegen. Und es ging immer friedlich zu, bis zu diesem Donnerstag. Da marschierte eine Gruppe von etwa 300 Demonstranten von hier aus los. Krawallmacher in ihren Reihen randalierten, schlugen Scheiben von Geschäften und Bushaltestellen ein.

Zuvor war der sozialistische Staatspräsident François Hollande im Fernsehen aufgetreten. In einer gut eineinhalbstündigen Sendung stellte er sich nicht nur den Fragen von Journalisten, sondern auch von vier ausgewählten Bürgern. Die sparten nicht mit Kritik. Fehler wollte der 61-Jährige aber nicht einräumen. Auch wer eine Vision für sein verbleibendes Jahr im Elysée-Palast erwartet hatte, wurde enttäuscht. Als letztes großes Projekt will Hollande die umstrittene Reform des Arbeitsrechts durchsetzen, gegen die "Nuit Debout" nun schon seit Wochen protestiert.

Die meisten Teilnehmer sind unter 30, aber auch Familien und ältere Leute kommen auf die Place de la République, um denen zuzuhören, die im Zwei-Minuten-Takt über Frauenrechte, Umweltschutz und die "unterdrückten Völker" sprechen. Eine der Zuhörerinnen ist Véronique. Die rothaarige Endfünfzigerin ist zum ersten Mal dabei und verteilt schon gleich das tägliche Flugblatt. "Politik ist keine Sache von Professionellen, sondern von uns allen", steht auf dem Zettel, der den Hinweis zur Facebook-Seite und zum Twitter-Account gleich mitliefert. Véronique ist überzeugt davon, dass es auf dem Platz vor allem um Politik geht, auch wenn rundherum viel getrommelt, gegessen und Bier getrunken wird.

"Das hier ist nicht nur ein Happening", sagt die Arbeitslose. Sie will den Reichtum der Welt besser verteilen, aber die Frage nach dem Wie kann auch sie nicht wirklich beantworten. Auf alle Fälle ohne Politiker und ohne Parteien: "Wir brauchen keine Hierarchien." Auch deshalb fühlt sich die Mutter zweier erwachsener Kinder von der "Nuit Debout" angezogen, die an die spanischen "Indignados" oder die Bewegung "Occupy Wall Street" erinnert.

Denn Anführer gibt es nicht unter den Nachtaktivisten, jedenfalls bisher nicht. "Diese Bewegung hier hat keine Köpfe, deshalb ist sie so schwer zu fassen", sagt Allan, der jeden Abend mit seinem Fahrrad zum Platz der Republik kommt. Der Gewerkschafter, der in der Nähe wohnt, ist weniger radikal als Véronique. Er will das Recht auf Bildung, Wohnung und medizinische Versorgung respektiert wissen. Dem Gärtnerlehrling Arnaud ist das viel zu schwach. "Man muss alles neu überdenken: das Geld, die Macht, alles", so der Jugendliche.

Er gehört zu denen, die Präsident François Hollande eigentlich zur Priorität seiner Amtszeit gemacht hatte. "Ich will nur an einem Ziel gemessen werden: ob es am Ende meiner Amtszeit 2017 den Jugendlichen besser geht", hatte der Sozialist in seiner berühmten Wahlkampfrede 2012 gesagt. Doch schon jetzt ist klar, dass der Staatschef sein Ziel verfehlt hat: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 25 Prozent.

"Das hier ist eine Unzufriedenheit, die seit vier Jahren herrscht und sich nun ausdrückt", sagt die sozialistische Abgeordnete Catherine Lemorton über "Nuit Debout", die nach Paris auch Dutzende andere Städte erfasst hat. Es ist vor allem die von den Linksparteien enttäuschte Mittelschicht, die auf die Straße geht. Die Banlieues, jene Problemvorstädte rund um Paris, sind nicht vertreten auf dem Platz der Republik. Das sieht auch ihr Initiator, der Dokumentarfilmer François Ruffin, so. "Die Bewegung muss die Stadtzentren verlassen und ausschwärmen, in die Banlieue, den ländlichen Raum und die Industriegebiete, sonst wird sie schnell an ihre Grenzen stoßen", sagte er in einem Interview.

Der Soziologe Albert Ogien sieht noch eine andere Gefahr: "Indem man sich zu sehr auf die Organisation der Besetzung eines Platzes und die basisdemokratische Form der Bewegung konzentriert, riskiert man die Frage nach dem übergeordneten Ziel zu vergessen", warnt er im Magazin "Regards". Allan, der Gewerkschafter, teilt diese Sorge. "Irgendwann müssen wir wegkommen von den Diskussionen, hin zu Aktionen", fordert er. Nur reden über eine bessere Welt reicht auf Dauer nicht aus.

(RP)
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