Analyse Neues jüdisches Selbstbewusstsein

Berlin · Nach vier Jahren im Amt des Zentralratsvorsitzenden tritt Dieter Graumann (64) nicht mehr an. Sein Nachfolger Josef Schuster (60) will ein modernes Judentum - aber ohne Smartphone am Sabbat.

Graumann-Nochfolger Josef Schuster hat zuletzt als Vizevorsitzender alle Entscheidungen mitgetragen.

Graumann-Nochfolger Josef Schuster hat zuletzt als Vizevorsitzender alle Entscheidungen mitgetragen.

Foto: dpa, dka htf

Er wollte die Juden in Deutschland herausführen aus dem Klischee der bloßen Dauer-Mahner. "Judentum bedeutet eben nicht nur immer Verfolgung und Elend und Katastrophen", sagte Dieter Graumann kurz nach Amtsantritt als Zentralratsvorsitzender.

Seine Vision: "Wir wollen eben gerade nicht nur chronisch melancholisch Trauer zelebrieren, wir wollen ein aktives, kreatives, kommunikatives, putzmunteres, kunterbuntes neues Judentum aufbauen, gerade hier in Deutschland." Das war 2010. Am Sonntag tritt Graumann ab. Mit der Bilanz, vorangekommen zu sein - aber auch tragische Rückschläge erlitten zu haben.

Sieben Jahrzehnte nach dem Verbrechen des Holocaust zählen die jüdischen Gemeinden in Deutschland gut hunderttausend Mitglieder. Sie sind zwar in der Mehrzahl orthodox an den traditionellen Riten ausgerichtet. Doch "kunterbunt", wie von Graumann beschrieben, geht es im Grunde bereits seit langem zu. Vor allem, seit 70 000 Juden aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion ab den 90er Jahren in Deutschland heimisch wurden. Neben orthodoxen entstanden Reform-, konservative und liberale Gemeinden. Was in der katholischen Kirche zu schweren Erschütterungen führen würde, ist bei den liberalen Juden keine Überraschung: Rabinerinnen.

Auf der anderen Seite ist aber auch die alte Frage, wer denn überhaupt ein Jude sei, noch nicht geklärt. Nur das Kind einer Jüdin? Sogenannte "Vaterjuden" sehen das anders. Dabei gibt es regional auch schon mal Rechtsstreitigkeiten, weil es auch um die Zuteilung staatlicher Zuschüsse geht. Damit einher geht die Überlegung, ob in der Synagoge auf Hebräisch oder auch auf Deutsch oder Russisch gebetet werden darf. Urplötzlich kam, für Graumann völlig überraschend, vor zwei Jahren eine weitere Identitätsfrage hinzu, als ein deutsches Gericht die Beschneidung hinterfragte und viele Juden sich mit ihrer Tradition in Deutschland nicht mehr heimisch fühlten.

Das alles wird aber überlagert von den schrecklichen Erlebnissen in diesem Sommer: Schon in den Gemeinden selbst ist die Position gegenüber der israelischen Politik umstritten. Die Grundsympathie, ja Liebe zum jüdischen Staat, ist eindeutig. Aber das Vorgehen der Regierung in Israel wird für Juden in Deutschland immer mehr zur Herausforderung. Als aber die Bilder brutaler Gewalt im Gaza-Krieg die Stimmung weltweit hochpeitschten, wurden die innerjüdischen Debatten verdrängt von einem überbordenden Israel-Hass, der regelrecht übersprang in Antisemitismus. "Es laufen schreckliche Schockwellen von Judenhass durch unser Land", lautete Graumanns Beschreibung. In seinen schlimmsten Albträumen habe er sich nicht vorstellen können, dass derartig widerliche Slogans auf deutschen Straßen wieder möglich sein würden.

Der über Jahrzehnte manifeste Bodensatz von rechtsextremistisch-antisemitischen Einstellungen ist nach jüngsten Untersuchungen zwar kleiner geworden. Doch die extremistische Israel-Kritik, die leicht in Judenhass umschlägt, hat deutlich zugenommen; und sie ist längst nicht mehr auf rechts außen beschränkt. Erst jüngst versagte Linken-Fraktionschef Gregor Gysi einigen seiner Abgeordneten die Zustimmung zu einer israel-kritischen Konferenz, weil er befürchtete, diese könne erneut in Antisemitismus umschlagen.

Ein Stabwechsel an der Spitze des Zentralrates im Herbst 2014 - damit verbanden Akteure wie Beobachter vor allem die Erwartung, dass die Balance aus Normalität und Erinnerung neu gefunden werden muss, wenn die Zeugen der Erlebnisgeneration immer weniger werden. Nun kommt hinzu, dass auch viele jüdische Gemeinden nach der Integration aus dem Osten selbst noch um ihre Identität ringen. Und in den Knochen steckt allen das Erlebnis, jederzeit selbst Zielscheibe von Hass und Gewalt werden zu können, wenn im Nahost-Konflikt wieder Blut fließt.

Graumann-Nachfolger Josef Schuster muss sich nicht erst hineinfinden. Er ist seit 15 Jahren im Zentralrat und hat zuletzt als Vizevorsitzender alle Entscheidungen mitgetragen. Bedauern über den aus privaten Gründen vollzogenen Schritt Graumanns überwog zunächst. Dieser habe schließlich "Außerordentliches" geleistet und etwa die Finanzen geordnet. Insofern will Schuster für "Kontinuität" stehen.

Der persönliche Erfahrungshorizont könnte paralleler kaum sein. Kam der 1950 im israelischen Ramat Gan geborene Graumann mit seinen Eltern als Zweijähriger nach Frankfurt ("David, ab heute heißt Du Dieter"), wechselte der 1954 in Haifa geborene Schuster mit seinen Eltern als Zweijähriger nach Würzburg. Wiewohl beide "nachgeboren" sind, spielte der Holocaust auch in ihren Familien eine große Rolle; die Großeltern und weitere Verwandte wurden von den Nazis ermordet.

Schuster wird in der Kontinuität von Graumann vor dem Phänomen stehen, dass das Eintreten für jüdisches Leben in Deutschland spärlich geworden zu sein scheint. Zur zentralen Veranstaltung "Steh auf! Nie wieder Judenhass" kamen gerade einmal 8000 Menschen zusammen. Schuster will ein modernes und der Tradition verpflichtetes Judentum. Sein Beispiel: Den jungen Mitgliedern erklären, warum sie am Sabbat das Smartphone ausschalten sollten: um zu erfahren, dass man 24 Stunden lang auch offline überleben und sich stattdessen auf Wesentliches konzentrieren könne. Schuster: "Plötzlich finden wir diesen Gedanken in Manager-Ratgebern wieder - ganz modern, aber der uralten jüdischen Tradition entsprechend."

(may-)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort