Analyse NRW fragt das Volk zu selten

Düsseldorf · Während sich in anderen Bundesländern die Bürger per Volksbegehren aktiv einmischen, findet die direkte Demokratie in der NRW-Landespolitik schlicht nicht statt. Die Verfassungskommission will das nun ändern.

1978 regierte Helmut Schmidt als Kanzler in Bonn, Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) in Düsseldorf, und der 1. FC Köln gewann die deutsche Meisterschaft. So lange ist es her, dass sich die Bürger in NRW per Volksbegehren direkt in die Landespolitik einmischten. Unter dem Slogan "Stopp Koop" verhinderten sie per Unterschrift das Prestigeobjekt der SPD/FDP-Landesregierung, die kooperative Gesamtschule, die Haupt-, Realschule und Gymnasium organisatorisch und pädagogisch vereinigen sollte.

Seitdem heißt es Fehlanzeige, was die direkte Demokratie auf Landesebene angeht. Während zwischen Hamburg und München fleißig Unterschriften für und wider Schulreformen, Studiengebühren und Rauchverbot gesammelt werden, erscheinen die Bürger an Rhein und Ruhr als apathisches Stimmvieh, das schluckt, was passiert.

36 Jahre nach "Stoppt Koop" schlagen die Wellen in der Schulpolitik wieder hoch, jetzt unter dem Slogan G 8. Das achtjährige Abitur steht massiv in der Kritik, viele Eltern wollen zurück zum alten System. Anders als in Bayern und Hamburg versuchen die Bürger in NRW nicht, eine Rückkehr zum G 9 per Volksbegehren zu erzwingen. Stattdessen haben sie eine Volksinitiative gestartet.

Die Unterschiede sind beträchtlich. Bei der Volksinitiative müssen 0,5 Prozent der stimmberechtigten Deutschen für ein Anliegen unterschreiben, also etwa 66 000 Bürger. Kommen diese zusammen, befasst sich der Landtag mit dem Thema, bindende Wirkung hat das allerdings nicht. Das Volksbegehren ist mächtiger; es hat zum Ziel, ein neues Gesetz zu erlassen oder ein bestehendes zu verändern oder aufzuheben. Dafür ist die Hürde deutlich höher. Bei einem Volksbegehren müssen mindestens acht Prozent der Stimmberechtigten unterzeichnen - in NRW ungefähr 1,1 Millionen Stimmen.

"Wenn wir interessierten Bürgern die geforderte Stimmenzahl und das für die Kampagne notwendige Budget von einer Million Euro nennen, winken sie sofort ab", erklärt Alexander Trennheuser von "Mehr Demokratie", einem Verein zur Stärkung der direkten Demokratie, der Bürger berät.

"Umfragen zeigen deutlich, dass sich ein Großteil der Bürger mehr direkte Einflussnahme auf die Politik wünscht", erklärt Trennheuser. Volksbegehren und -entscheid sind auf dem Vormarsch. Laut "Mehr Demokratie" fanden 84 Volksbegehren in den Bundesländern seit 1966 statt, über die Hälfte in den vergangenen 14 Jahren. Seit 1968 resultierten daraus 22 Volksentscheide in den Ländern - dazu kommt es, wenn sich das Parlament dem Volksbegehren nicht beugen will -, mehr als die Hälfte davon seit der Jahrtausendwende. Vor allem in den Stadtstaaten Hamburg und Berlin, in Bayern und in Ostdeutschland ist die direkte Bürgerbeteiligung stark.

Da es in NRW nicht so richtig klappen will, befasst sich die Verfassungskommission mit dem Thema. Sie soll Vorschläge zu einer Reform der Landesverfassung erarbeiten. In Artikel zwei der Landesverfassung heißt es: "Das Volk bekundet seinen Willen durch Wahl, Volksbegehren und Volksentscheid." Dazu hatte die Verfassungskommission für Anfang September eine Anhörung von Experten aus Wissenschaft und Praxis organisiert. "Es gibt an vielen Stellen Hinweise darauf, dass es mit den Quoren zu tun hat", resümierte Hans-Willi Körfges (SPD).

In der Anhörung forderte Trennheuser eine Absenkung der Acht-Prozent-Hürde um zwei bis drei Prozentpunkten, das wären immer noch mehrere Hunderttausend Unterschriften. Während Wissenschaftler der Universität Wuppertal eine Reduzierung begrüßten, gab Klaus Gärditz vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht der Universität Bonn zu bedenken, dass die Hürde im bundesweiten Vergleich am unteren Ende liege. Die Quoren reichen von 3,6 Prozent der Stimmberechtigten in Schleswig-Holstein bis zu 20 Prozent in Baden-Württemberg.

"Unsere Grundhaltung ist, dass acht Prozent zu hoch sind. Und wir können uns eine Absenkung vorstellen", sagte Stefan Engstfeld (Grüne). Ähnlich äußerten sich die Fraktionen von Piraten und FDP. "Man wird darüber diskutieren, ob es eine maßvolle Absenkung geben soll", erklärte Ingo Wolf (FDP). Zurückhaltender gab sich die in dieser Frage stets skeptische CDU, die immerhin bereit ist, die Quoren zu diskutieren. Genaue Zahlen nennen will keine der Fraktionen. Die Empfehlungen der Verfassungskommission werden erst im nächsten Jahr bekannt gegeben, die Frage nach der Höhe einer Absenkung gehört zur Verhandlungsmasse.

Dass es nicht nur am Quorum liegt, zeigt das Beispiel Bayern, wo in den vergangenen fünf Jahren drei Volksentscheide stattfanden, davon zwei erfolgreiche - zum Nichtraucherschutz und zur Abschaffung der Studiengebühren. Im Freistaat liegt das Quorum bei zehn Prozent. Die Bürger müssen innerhalb von zwei Wochen in den Rathäusern unterschreiben. In NRW können sie ein Jahr lang Unterschriften sammeln, 18 Wochen liegen die Listen in den Amtsstuben aus.

"Der Unterschied ist, dass es in Bayern mehrmals geklappt hat", erklärt Trennheuser. Außerdem sei der Leidensdruck derjenigen Bürger größer, die nicht mit der ewigen Regierungspartei CSU übereinstimmen. "Hier in NRW weiß dagegen kaum jemand, wie Volksbegehren und Volksentscheid funktionieren", beschreibt es Trennheuser. Somit sei viel Erklärungsarbeit nötig. Die Erfahrungen in Hamburg und Berlin zeigten, dass auf ein erfolgreiches Volksbegehren weitere folgen.

So sollen die Hürden gesenkt werden, damit es endlich mal wieder klappt mit der direkten Demokratie in der Landespolitik und die Bürger Gefallen daran finden. Doch letztendlich liegt es allein am Volk, ob es was wird mit der direkten Demokratie im Lande NRW.

(RP)
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