Nach Protesten der Schüler in NRW Das Mathe-Abitur im Experten-Test

Düsseldorf · Seit mehr als einer Woche protestieren Schüler gegen ihre Mathematik-Klausuren. Viele Aufgaben seien missverständlich oder zu kompliziert gewesen, lautet eine vielfach gehörte Kritik. Ein Student, ein Lehrer und ein Professor rechnen die Aufgaben für uns nach.

 Armin Wirths studiert Mathematik im 2. Semester an der Uni Düsseldorf.

Armin Wirths studiert Mathematik im 2. Semester an der Uni Düsseldorf.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Fast 11.000 Mitglieder in einer Protestgruppe im sozialen Netzwerk Facebook, Hunderte bei einer Demonstration vor dem Ministerium, eine hitzige Landtagsdebatte — das Mathematik-Abitur hat sich für Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) unversehens zur Belastungsprobe ausgewachsen. Viele Aufgaben seien missverständlich oder zu kompliziert gewesen, lautet eine vielfach gehörte Kritik. Die Forderung der Schüler nach einer Nachschreibemöglichkeit hat Löhrmann dennoch abgelehnt.

 Gerhard Becker ist Mathe-Lehrer am Düsseldorfer Max-Planck-Gymnasium.

Gerhard Becker ist Mathe-Lehrer am Düsseldorfer Max-Planck-Gymnasium.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Was aber mussten die Schüler wirklich leisten? Fünf der acht Aufgaben, aus denen die Lehrer für ihre Grundkurse je zwei auswählten, liegen unserer Zeitung vor. Drei Mathe-Experten haben einen Blick darauf geworfen — ein Student, ein Lehrer, ein Professor. Sie bestätigen insgesamt Löhrmanns Fazit: Die Klausuren seien lösbar und mathematisch angemessen gewesen. Kritik gibt es an manchen Formulierungen.

 Franz-Reinhold Diepenbrock ist emeritierter Professor für Mathematik, Universität Wuppertal.

Franz-Reinhold Diepenbrock ist emeritierter Professor für Mathematik, Universität Wuppertal.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Der Mathematik-Student

In der ersten Aufgabe sollen die Schüler das Wachstum einer Buche anhand einer mathematischen e-Funktion beschreiben, die die Höhe des Baumes gemessen an seinem Alter zeigt. Das Beispiel kommt Mathematik-Student Armin Wirths bekannt vor. "Die Formulierung geht in Ordnung. Im Prinzip geht es darum, am Beispiel eines Sachverhaltes eine e-Funktion zu erklären." Das gehöre zum "Standard-Repertoire", sagt der Mathematikstudent. Solche Beispiele habe es auch vor drei Jahren im Matheunterricht gegeben, als er selbst noch Abiturient gewesen sei.

Die grafische Darstellung der Funktion erleichterten zudem das Verständnis für die Aufgabenstellung und das Rechnen, findet Wirths. "Man kann die Lösungen im Grunde ablesen und muss sie nur noch rechnerisch überprüfen." Auch bei Teilaufgabe zwei sollte klar sein, worum es geht, glaubt Wirths. Die Schüler sollen den Zeitpunkt bestimmen, zu dem der Baum am stärksten wächst. "Hier muss man Extrempunkte ausrechnen." Auch das gehöre zum Unterrichtsstoff, sagt der Student. Die richtige Stoßrichtung gebe die Aufgabenstellung schon vor: Es gilt, die erste und zweite Ableitung der Funktion zu bestimmen. Die richtigen Ableitungen haben die Schüler zur Selbstkontrolle auch zur Verfügung.

In der dritten Teilaufgabe geht es darum, das Wachstum eines zweiten Baumes mit dem ersten zu vergleichen. Auch hier hilft die grafische Darstellung. "Hier muss man nur beschreiben, was man sieht", sagt der Mathe-Student. Selbst wenn man die erforderlichen Rechnungen nicht beherrsche, könne man sich so Punkte sichern.

Für Armin Wirths sind die Aufgaben klar lösbar, gehören für Grundkursschüler aber zumindest zum "gehobenen Niveau". "All diese Methoden sollten den Schülern beigebracht worden sein. Wenn die Lehrer das ansprechend erklärt haben, dann sollte das eigentlich kein Problem sein."

Der Mathematik-Lehrer

Die dritte Aufgabe gehört zum "innermathematischen" Bereich, sagt Gerhard Becker. Gegeben ist eine mathematische Funktion, an der die Schüler verschiedene Rechenoperationen durchführen sollen. "Das ist rein mathematisch und ohne konkretes Beispiel", sagt der Mathe-Lehrer. Aufgaben wie diese seien in der Vergangenheit häufig kritisiert worden, erinnert sich Becker. "Deshalb haben wir in NRW versucht, immer ein Beispiel zu geben." Dafür sei die Aufgabenstellung hier allerdings glasklar formuliert: "Berechnen Sie die Nullstellen der Funktion f", heißt es da. "Da weiß man, was man tun muss", findet Becker.

Die zweite Teilaufgabe bewertet der Mathe-Lehrer als "gehobenes, schwieriges Niveau" für Grundkurs-Schüler. Hier gilt es, den Graphen zu verschieben. Das gehöre zwar durchaus zum Unterricht, sei aber am Beispiel der gegebenen Funktion zumindest eine "ungewöhnliche" Aufgabe, sagt der 63-Jährige. Die letzte Teilaufgabe lege den Schülern "zumindest den ein oder anderen Stein in den Weg". Verschiedene Niveaustufen innerhalb einer Aufgabe seien aber nicht unüblich. Es komme auf die Ausgewogenheit an.

Die vierte Aufgabe gehört zur analytischen Geometrie. Es geht um Vektorrechnung und um das Berechnen von Volumina dreidimensionaler Körper. Das berüchtigte "Oktaeder des Grauens" hat Mathe-Lehrer Becker seinen Schülern 2008 erspart. Die Aufgabe sei nicht angemessen gewesen, erinnert er sich. "Aber von einem 'Tetraeder des Grauens' kann in diesem Jahr keine Rede sein." Abstands-, Volumen- und Winkelbestimmung gehören zum Stoff.

Insgesamt findet der Mathe-Lehrer den Schwierigkeitsgrad angemessen. Allerdings sei die Zeit mit drei Stunden für zwei vollständige Aufgaben "sehr knapp bemessen", schätzt Becker. "Man kann sich nicht mehr als einmal verrechnen, sonst wird es eng."

Der Mathematik-Professor

In der sechsten Aufgabe sollten die Schüler mithilfe einer sogenannten Übergangsmatrix die Entwicklung eines Bestands von Tannen einer Baumschule beschreiben und berechnen. "Mathematisch wäre der Schwierigkeitsgrad akzeptabel", sagt Mathe-Professor Franz-Reinhold Diepenbrock. Aber: "Bei der sprachlichen Formulierung fragt man sich, ob man den Schülern das Verständnis durch unnötige Kompliziertheit erschweren wollte — auch wenn teilweise sogar (etwa durch Fettdruck) versucht wird, auf entscheidende Punkte hinzuweisen."

Schon den zweiten Satz, der die Größenklassen beschreibt, sagt Diepenbrock, "hätte man übersichtlicher gestalten können, indem man für jede Klasse eine neue Zeile begonnen hätte. Stattdessen bekommen die Schüler einen über vier Zeilen laufenden Satz mit drei Nebensätzen."

Ein "noch schlimmerer Schachtelsatz" komme dann. Zitat: "Nun wird davon ausgegangen, dass jeweils am Ende einer Wachstumsperiode, innerhalb derer sich der Bestand zunächst gemäß der Übergangsmatrix A entwickelt hat, 56 Prozent des dann vorhandenen Bestandes der Größenklasse G gefällt und danach genau so viele Tannen in der Größenklasse K neu gesetzt werden, wie zuvor in der Größenklasse G gefällt wurden." Alle Nebensätze, so der Professor, wären mühelos durch Hauptsätze zu ersetzen.

Ein "dickes Problem" schließlich stecke im letzten Teil. Dort heißt es: "Bestimmen Sie (...), wie viele Tannen der Größenklasse K nach den Fällarbeiten am Ende der Wachstumsperiode insgesamt neu gesetzt werden müssten." Diepenbrock: "Beim ersten Lesen wird der Schüler sich fragen, wieso da 'insgesamt' steht, wenn doch die neuen Bäume alle zur Klasse K gehören. Das genauere Durchlesen raubt Zeit, die für die Mathematik dann vielleicht fehlt."

"Unnötig komplizierten Sprachwust" sieht Diepenbrock: "Das kostet Zeit und bei Verständnisproblemen ordentlich Nerven, und die Kritik an der Formulierung der Aufgaben ist daher mehr als berechtigt."

(RP/das)
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