Schulpolitik in NRW Recht auf Regelschule

Düsseldorf · NRW steht beim gemeinsamen Unterricht mit Behinderten an einem kritischen Punkt: Während der Landtag noch über Grundlagen diskutiert, werden vor Ort Fakten geschaffen. Das führt zu Unmut.

Schulen in NRW - Fakten im Überblick
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Foto: dpa, Julian Stratenschulte

Die Schulministerin war voll des Lobes. "Pioniergeist" habe man bewiesen, sagte Sylvia Löhrmann (Grüne) vorige Woche an der Bodelschwingh-Grundschule in Bonn. Seit 30 Jahren sitzen dort behinderte und nichtbehinderte Kinder zusammen in den Klassen. Dies sei eine "Vorreiterschule", lobte Löhrmann.

Dann wurde es ernst: Inklusion — die Einbeziehung behinderter Schüler ins System der Regelschulen — bedeute, dass "auch unsere Gymnasien sich endlich der Inklusionsfrage stellen" müssten, sagte die Ministerin. Wenn es an der Freiwilligkeit hapere, könne man das Ziel auch gesetzlich festschreiben: "Eltern von Förderkindern müssen endlich aus der Bittstellerrolle herauskommen."

Löhrmanns Sätze zeigen: NRW steht in Sachen gemeinsamer Unterricht mit Behinderten an einem kritischen Punkt. Und ohne Reibungen wird es wohl nicht abgehen. Denn dem Land steht nicht weniger als eine Revolution bevor — binnen zehn, vielleicht 15 Jahren soll die große Mehrheit der behinderten Kinder nicht mehr in eigenen Förderschulen, sondern gemeinsam mit Nichtbehinderten unterrichtet werden. Grundlage ist eine UN-Konvention über die Rechte Behinderter, die die Bundesrepublik unterzeichnet hat.

Kosten: Dreistelliger Millionenbetrag

Das kostet vermutlich allein Nordrhein-Westfalen einen dreistelligen Millionenbetrag — und fordert von den Lehrern ganz neue Kompetenzen, weil sie dann in sich extrem unterschiedliche Lerngruppen betreuen. NRW steht bei der Inklusion nur im Mittelfeld (siehe Grafik). Allerdings hat sich die Quote binnen fünf Jahren fast verdoppelt.

Heute soll der Landtag auf Antrag der Regierungsfraktionen einen Eckpunkteplan für die Umstellung des Schulsystems beschließen. Darin sprechen sich SPD und Grüne für einen "ehrlichen Zeitplan" aus: "Eilige Maßnahmen, die Qualitätsanforderungen und Ressourcenfragen außer Acht lassen, sind nicht verantwortbar." Nötig sei eine Fortbildungs-Initiative für Lehrer. Ziel ist die Verankerung eines Rechtsanspruchs auf gemeinsamen Unterricht — nach dem Willen von Rot-Grün zum Sommer 2013.

Also schon in einem Jahr. Dennoch schält sich erst in Umrissen heraus, wie das inklusive Schulsystem in NRW am Ende aussehen soll. So soll der Rechtsanspruch jahrgangsweise aufgebaut werden: jeweils für die ersten und fünften Klassen eines Jahrgangs, so dass nach knapp einem Jahrzehnt der gemeinsame Unterricht für die gesamte Schullaufbahn juristisch abgesichert ist. Die derzeit sieben Formen von Förderschulen sollen zunächst erhalten bleiben. Klar ist auch, dass die Inklusion nicht überall gleichzeitig starten kann. Deshalb soll es mindestens 50 "Vorreiterschulen" geben.

Das bedächtige Vorgehen — die Eckpunkte sollen Grundlage für einen Gesetzentwurf sein — ist nicht nur pädagogisch begründet. Man wolle auch "auf einer gemeinsamen Plattform mit der CDU bleiben", sagt Sigrid Beer, Schulexpertin der Grünen. 2010 hatten CDU, SPD und Grüne im Landtag symbolisch dafür gestimmt, die UN-Konvention in NRW umzusetzen. "Wir wollen diesen Weg nicht verlassen", sagt Beer. Die CDU allerdings klagt über "Inklusion light". Zwar sei man beim Ziel einer Meinung, sagt CDU-Schulexperte Klaus Kaiser, aber: "Uns fehlt, wie das konkret vor Ort aussehen soll." Die CDU hat deshalb einen eigenen Antrag vorgelegt — gemeinsam mit den Piraten.

Zugleich werden vor Ort Tag für Tag Fakten geschaffen. Die Beweislast etwa hat das Ministerium bereits 2010 umgekehrt. Seither muss die Schulaufsicht begründen, warum ein Kind nicht an einer Regelschule aufgenommen werden kann. Während im Landtag noch über die Grundlagen diskutiert und um die Reaktivierung der rot-grün-schwarzen Schulfriedenskoalition von 2011 gerungen wird, ist der Umbauprozess im Land in vollem Gang.

Das bringt Probleme mit sich — wie in Dortmund: Dort will die Stadt zum Sommer an sieben statt wie bisher an vier Gymnasien Klassen mit gemeinsamem Unterricht anbieten. Gefragt wurde auch das Goethe-Gymnasium. Schulleiter Christof Nattkemper jedoch lehnte ab: "Ich habe argumentiert, dass das Goethe-Gymnasium durch den doppelten Abiturjahrgang ohnehin bereits mehr Kurse anbieten muss und daher Raumprobleme hat." Dennoch muss er zum Sommer gemeinsamen Unterricht anbieten — die Schulen würden zwar gehört, hätten aber kein Vetorecht, sagt Sabine Kneer von der Bezirksregierung Arnsberg: "Der Anspruch der Eltern hat Priorität. Da kann es zu Differenzen kommen."

"Uns fehlt Zeit"

Nattkemper ist davon wenig begeistert: "Die Probleme in der Umsetzung strapazieren den guten Willen der Beteiligten." Er beklagt vor allem die Eile beim großen Projekt: "Von uns wird vernünftige Arbeit eingefordert, aber uns fehlt schlicht die Zeit." Wie der gemeinsame Unterricht konkret aussehen könne, sei noch völlig unklar. Immerhin habe man jetzt die Zusage der Stadt, Räume der benachbarten Hauptschule mitnutzen zu dürfen.

Bedenken hat auch die Evangelische Kirche im Rheinland, die selbst zehn Schulen betreibt. "Man muss den Schulen Mut machen, diesen Weg zu gehen", sagt Klaus Eberl, Leiter der Bildungsabteilung, "nicht nur, weil wir die UN-Konvention umsetzen müssen, sondern auch, weil es bildungspolitisch erstrebenswert ist." Dass es dabei "ein allgemeines Grummeln" gebe, sei nicht zu bestreiten, sagt Eberl: "Es bringt nichts, Schulen die Inklusion aufs Auge zu drücken. Das dauert, wenn man es vernünftig machen will, seine Zeit."

Durch die Landtagsneuwahl hat Rot-Grün zwar eine eigene Mehrheit gewonnen, aber auch ein Vierteljahr für die Parlamentsarbeit verloren. Die Gesetzesänderung soll im Herbst verabschiedet werden, damit der Rechtsanspruch 2013 starten kann. Das sind ehrgeizige Vorgaben. Dabei die für den Umstieg nötige Zeit zu finden, ist die große Herausforderung der Inklusion. Vielleicht ist es aber auch unmöglich.

(RP/felt)
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