Analyse Numerus clausus auf dem Prüfstand

Berlin · Ein Medizinstudium kann nur antreten, wer ein Einser-Abi hat oder viele Jahre auf seinen Studienplatz wartet. Das Bundesverfassungsgericht prüft nun, ob das zulässig ist. Fachleute halten die Regelung schon lange für falsch.

Schon seit Jahren ist bei Ärzten, Patienten und Gesundheitspolitikern die Erkenntnis durchgesickert, dass ein 1,0-Abitur nicht zwingend die besten Ärzte hervorbringt. Im Gegenteil: Wer ein Einser-Abitur macht, hat häufig auch hohe berufliche Ziele, möchte in die Wissenschaft einsteigen oder zumindest in einer Universitätsklinik arbeiten. Um junge Menschen für den Beruf des Landarztes zu begeistern, der auf dem Dorf lebt, viele alte Menschen betreut und sich im Fall der Fälle auch mit der Arzttasche bei Wind und Wetter zu seinen Patienten bewegt, dafür muss man die Medizinstudenten breiter aussuchen. Doch das geschieht zu wenig.

Die Ärzteschaft drängt schon seit Jahren auf eine Reform: "Wir brauche nicht nur hoch lernfähige, wissenschaftlich orientierte, potenzielle Nobelpreisträger, sondern wir brauchen auch gute Ärzte, die sich durch soziale Kompetenz auszeichnen und auch bereit sind, aufs Land zu gehen", sagt Ärztepräsident Frank-Ulrich Montgomery.

Aus Sicht der jungen Menschen, die den Arztberuf ergreifen wollen, ist das aktuelle Auswahlsystem ebenfalls ungerecht. Zumal für ein Einser-Abitur in diesem Bundesland weniger oder zumindest anderes geleistet werden muss als in jenem Bundesland. So gehen jedes Jahr tausende Bewerber für das Medizinstudium leer aus. Aktuell können nur knapp 20 Prozent der Bewerber pro Studienjahr angenommen werden.

Wer heute Medizin studieren möchte, brauchte zum aktuellen Wintersemester 2017/2018 laut Stiftung für Hochschulzulassung in 14 Bundesländern ein Abitur mit einem Schnitt von 1,0. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein reichte ein Schnitt von 1,1. 20 Prozent der Plätze fürs Medizinstudium werden von den Ländern vergeben. Weitere 20 Prozent erhalten die Bewerber mit den längsten Wartezeiten. Zum aktuellen Semester wurden laut Stiftung für Hochschulzulassung diejenigen zum Studium zugelassen, die 14 Semester Wartezeit vorweisen konnten und deren Abiturnote zudem 2,6 oder besser war. Die restlichen 60 Prozent vergeben die Hochschulen nach eigenem Auswahlverfahren. Die Unis können dabei den Medizinertest, eine Berufsausbildung oder auch ein Auswahlgespräch berücksichtigen. Die Kriterien der Hochschulen sind allerdings unterschiedlich. Viele Unis wählen schlicht nach Abiturnote aus.

Nun befasst sich das Bundesverfassungsgericht nach mehr als 40 Jahren erneut mit der Frage, ob das aktuelle Auswahlsystem den Kriterien des Grundgesetzes standhält. Geklagt hatten zwei Studienplatzbewerber, die wegen ihrer Noten fürs Medizinstudium abgelehnt wurden. Ein 26-jähriger Hamburger mit Ausbildung zum Rettungssanitäter und bestandenem Medizinertest in der Tasche und eine 27-jährige ausgebildete Krankenpflegerin aus Schleswig-Holstein. Nach Ansicht der Gelsenkirchener Kammer darf die Wartezeit auf einen Studienplatz nicht zu lange sein. Auch Bewerber mit schlechterem Abiturschnitt müssten eine realistische Chance auf ein Medizinstudium bekommen, heißt es im Ruhrgebiet.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe will entscheiden, ob das mehrgliedrige Vergabeverfahren nach Abi-Noten, Wartezeiten und hochschulinternen Vorgaben mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Grundlage für die Verhandlung ist eine Vorlage des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen. Die Gelsenkirchener sind bundesweit für alle Verfahren gegen die Stiftung für Hochschulzulassung zuständig. Die Richter dort bezweifeln, dass die Vergabe verfassungskonform ist. Je nach Ausgang des Urteils kann das auch weitreichende Konsequenzen für andere beliebte Studienfächer wie Jura haben.

Dabei geht es auch um die Gerechtigkeitsfrage: Ist es vertretbar, dass derjenige, der in der Schule fleißig lernt, auch einen begehrteren Job machen darf? Oder muss die Justiz nicht vielmehr bei der Berufswahl die Chancengerechtigkeit betonen und gleiche Ausgangsvoraussetzungen für den Karrierestart schaffen? Der Vizepräsident des höchsten Gerichts, Ferdinand Kirchhof, sprach von einem "Knappheitsproblem, das die berufliche Lebensplanung junger Menschen gravierend betrifft". Das Urteil darf mit Spannung erwartet werden: Bei einer Entscheidung der Verfassungsrichter zugunsten der Kläger müssten die Regeln für die Vergabe wohl überarbeitet werden.

Dann wäre es wieder einmal das Verfassungsgericht, das eine Reform anschiebt, die von der Politik auf die lange Bank geschoben wurde. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr einen "Masterplan Medizinstudium 2020" vorgelegt. Ziel von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ist es, die Allgemeinmedizin und die kommunikativen Kompetenzen der Ärzte zu stärken. Der Plan sieht auch eine Landarztquote vor, nach der die Länder künftig zehn Prozent der Bewerber um einen Medizinstudienplatz bevorzugt zulassen können. Für diese Bewerber zählt dann nicht mehr die Abi-Note. Sie müssen sich aber verpflichten, die ersten zehn Jahre als Hausärzte in einer unterversorgten Region zu arbeiten. Das Problem am Masterplan: Er ist kein Gesetzeswerk, sondern eine Kann-Vorschrift.

Den Ärzten schweben noch weitere Reformen vor. Sie fordern etwa bundesweit 1000 zusätzliche Studienplätze und eigene Assessment-Center, in denen die Medizinstudenten ausgewählt werden. "Dort sollten fachliche und menschliche Voraussetzungen für den Arztberuf geprüft werden", sagte Montgomery. Die Einführung solch aufwendiger Auswahlverfahren wäre wiederum mit hohen Kosten für die Universitäten verbunden. Klar aber ist, dass die Vergabe von Medizin-Studienplätzen nur dann sinnvoller und gerechter werden kann, wenn es dafür verbindliche Regeln gibt.

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