Moskau Allein gegen alle

Moskau · In einer großen Ausstellung zur Geschichte Russlands präsentiert das Regime sein Weltbild.

Die junge Besucherin dreht sich lachend um: "Sie kommen aus Deutschland?" Gerade erzählt der Führer durch die Ausstellung "Mein Russland" die Vorgeschichte der deutschen Wiedervereinigung. Es ist die Chronik einer schamlosen Übervorteilung. 50 Milliarden Dollar hätten der Sowjetunion im Tausch gegen die DDR zugestanden, sagt der noch flaumbärtige Führer: "Und was kam am Ende dabei heraus? Drei Millionen!" Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl habe die Notlage Michail Gorbatschows genutzt und den Generalsekretär der klammen Kommunistischen Partei mit drei Millionen Dollar abgespeist. "Nach reichlich Alkoholkonsum", empört sich der junge Mann.

Möchte die junge Besucherin vielleicht die Höhe der tatsächlichen Zahlungen erfahren? Zweistellige Milliardensummen überwies Deutschland in Wirklichkeit damals. "Nein, kein Bedarf, das ist unsere Version der Geschichte", lacht die Blonde und zieht weiter. Dass Michail Gorbatschow keinen Tropfen Alkohol trank und sogar mit einer Anti-Wodka-Kampagne in der UdSSR viele anfängliche Sympathien verspielte, macht die Zuhörer der Führung auch nicht stutzig. Die Fakten haben einen schweren Stand in dieser Ausstellung.

Im nächsten Saal steht Russlands erster Präsident Boris Jelzin am Pranger. Er habe die Sowjetunion demontiert und für sein Handeln "liebesdienerisch" vor den Amerikanern Rechenschaft abgelegt, erläutert der Begleitfilm. Ausgesprochen wird das Wort zwar nicht, aber der Vorwurf des Verrats steht auch so deutlich im Raum.

"Russland - meine Geschichte. 1945 - 2016" ist der letzte Zyklus einer vierteiligen Geschichtsserie, die die Kulturabteilung der orthodoxen Kirche seit zwei Jahren veranstaltet. Das Projekt umspannt 1200 Jahre - von den Anfängen der Kiewer Rus im 9. Jahrhundert bis zur aktuellen Regentschaft Wladimir Putins. Bischof Tichon, Beichtvater und Ratgeber des Kreml-Chefs in geistlichen Fragen, konzipierte die Ausstellung höchstpersönlich. Besucher müssen auf kirchlichen Segen nicht verzichten. Wer möchte, kann vor dem Rundgang noch einen Schlenker zur Ikone der Gottesmutter von Wladimir unternehmen. Zwei Popen empfangen ihn. Nach Segen und Kuss mündet jedoch auch dieser Abstecher in die monumentale Historienschau.

Ganze Heerscharen von begeisterten Besuchern schoben sich im November durch die Moskauer Manege unterhalb der Kreml-Mauer. Demnächst zieht die Ausstellung in ihr endgültiges Domizil auf dem Gelände der "Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft", wo das Regime zu Sowjetzeiten seine Leistungsschau präsentierte.

Der Rundgang beginnt 1945 mit einer Sentenz des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz. 1812 hatte es ihn in russische Dienste verschlagen. "Nur durch eigene Schwäche und Wirrungen des inneren Zwiespalts kann Russland bezwungen werden", analysierte Clausewitz in seinem berühmten Werk "Vom Kriege". Die Ausstellung macht dies zum Leitmotiv: Russland wird demnach praktisch von Natur aus von fremden Mächten bedroht. Diese schüren auch im Innern Unruhe. Hier nährt sich Moskaus akute Angst vor revoltierenden Massen wie in der Ukraine. Jede demokratische Forderung gerät in dieser Logik zu einem Anschlag auf die innere Stabilität. Die meisten Russen teilen diesen Glauben an die dauerhafte Bedrohung ihres Landes mit ihrer politischen Führung.

Zeigte sich diese Feindseligkeit nicht schon 1945? "Warum sonst verließen die USA mit ihren Verbündeten die erfolgreiche Anti-Hitlerkoalition und brachen den Kalten Krieg vom Zaun?", fragt ein Begleittext anklagend. Das Wesen des Westens sei schuld. Er habe nur den eigenen Vorteil im Sinn und sei zu allem bereit - auch zum Verrat. Dies mag mitunter sogar zutreffen. In "Mein Russland" wird der Vorwurf gleichwohl zum erkenntnisleitenden Prinzip. Der Marshall-Plan zum Wiederaufbau von Nachkriegseuropa schrumpft zum bloßen antisowjetischen Druckmittel. Dem konnte Osteuropa nur durch den "freiwilligen Zusammenschluss im Gemeinsamen Wirtschaftsrat des Comecon begegnen", lesen wir.

Wichtig ist die wiederkehrende Botschaft: Der Niedertracht des Westens steht ein aufrichtiges Russland gegenüber. Dieses muss jedoch schwere Prüfungen bestehen, da es ehrlich bleiben möchte. Der Geist der Ausstellung beruhigt indes mit der Gewissheit: "Der Sieg ist unser!" Am Ende des Rundgangs fordert Wladimir Putin von einem Banner den Besucher noch einmal zu Standfestigkeit auf: "Wir dürfen nicht zulassen, dass man uns Schuldgefühle einimpfen möchte." Die dunklen Kapitel der Vergangenheit, auf die die Opposition und westliche Kritiker hinweisen, sollen besser im Dunkeln bleiben.

Mit Eigenlob wird unterdessen nicht gegeizt. Produktionsziffern aus Industrie, Rüstungssektor und Landwirtschaft unterstreichen die Lebensfähigkeit des sozialistischen Systems von den Anfängen bis in die späte UdSSR. Reformstau wird zwar eingeräumt. Dass die Sowjetunion sang- und klanglos unterging, hätte jedoch an Faktoren gelegen, auf die Moskau keinen Einfluss hatte: Die USA hätten am Ölpreis gedreht.

Selbst das Kapitel Stalin wird aufgehellt. Zwar muss der Generalissimus wegen des Kults um seine Person eine Rüge einstecken. Anhand eines Aufforstungsprogramms von 1948 lässt sich jedoch die Weitsichtigkeit des Diktators belegen. Ein Ausstellungsmitarbeiter gibt eine Kostprobe. Mit dem Arm gleitet er über eine Projektionsfläche und bringt die vormals dürre Landschaft zum Grünen. Mit erhobenen Zeigefinger verkündet er: "Das alles haben wir Stalin zu verdanken". Und damit die Geschichte rund bleibt, werden auch Ungarnaufstand (1956) und Prager Frühling (1968) nachträglich in die Verschwörungstheorie westlicher angestachelter Farbrevolutionen eingearbeitet. Für die Putin-Ära stellt die Ausstellung in etwa das dar, was der "Kurze Lehrgang" der KPdSU einst für die Stalinzeit bedeutete: Leitfaden einer imaginierten Geschichte. Russland hat nie Schuld und trägt für nichts Verantwortung. Es ist Opfer.

(RP)
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