Washington Obamas überraschender Gnadenakt für Manning

Washington · Whistleblower Bradley/Chelsea Manning darf in vier Monaten das Gefängnis verlassen.

Zuletzt waren alarmierende Nachrichten aus Fort Leavenworth gekommen. Zweimal, erst im Juli, dann erneut im November, hatte Chelsea Manning versucht, sich das Leben zu nehmen. Man konnte ahnen, welche Seelenqualen sie litt in dem Militärgefängnis in der Prärie von Kansas. Zumal sie sich, geboren als Bradley Manning, als Frau fühlte, die im falschen Körper lebte, in dem eines Mannes. Zumal sie in einer Haftanstalt eingesperrt war, in der sonst nur Männer einsaßen. Vor Monaten trat sie in den Hungerstreik, den sie erst beendete, als die Armee zusagte, auf ihre Bitte nach einer Geschlechtsumwandlung einzugehen.

Die Strafe sei ungerecht und empörend, "sie steht in keinem Verhältnis zu dem, was ich getan habe", schrieb die 29-Jährige in einem Gnadengesuch. "Ich bin nicht Bradley Manning, das war ich in Wirklichkeit nie. Ich bin Chelsea Manning, eine stolze Transgender-Frau, die mit diesem Antrag hochachtungsvoll darum bittet, erstmals im Leben eine Chance zu bekommen." In einer seiner letzten Amtshandlungen als Präsident hat Barack Obama den Ruf nach Milde erhört. Statt bis 2045 hinter Gittern sitzen zu müssen, kommt Manning in vier Monaten frei.

Mit den nahezu sieben Jahren, die sie bereits im Gefängnis verbrachte, habe sie eine angemessene Strafe verbüßt, begegnet das Weiße Haus den Einwänden konservativer Kritiker, die wie der Senator John McCain von einem schweren Fehler sprechen. Obamas Entscheidung kommt insofern überraschend, weil kaum ein anderer US-Präsident mit solcher Härte reagierte, wenn Whistleblower öffentlich machten, was unter Verschluss bleiben sollte. Schon um Nachahmer abzuschrecken, holte er ein altes Gesetz aus der Rumpelkammer, den Espionage Act von 1917, mit dem praktisch jeder, der Interna ausplaudert, zum Spion gestempelt werden kann. Manning war nur einer von neun Fällen, in denen sich das Kabinett Obama auf das verstaubte Paragrafenwerk berief, um Whistleblower vor Gericht zu stellen. Zugleich war es der Fall, in dem der Angeklagte derart drakonisch bestraft wurde, dass viele von skandalöser Übertreibung sprachen.

Bradley Manning, wie Chelsea Manning damals noch hieß, war 2009 als Computeranalyst mit seiner Einheit in den Irak verlegt worden. Im Camp Hammer, einer kleinen Kaserne in der Nähe Bagdads, konnte er unbeschränkt auf SIPRNet zugreifen, ein Netzwerk, mit dessen Hilfe sowohl die Streitkräfte als auch die Botschaften der USA kommunizieren. Vor einer Militärrichterin hat er später geschildert, wie schockiert er war, als er mitbekam, mit welcher "Lust am Töten" die US-Soldaten 2007 an Bord zweier Apache-Hubschrauber in Bagdad Raketen abfeuerten und 13 Iraker töteten, unter ihnen einen Fotografen der Nachrichtenagentur Reuters, dessen Kamera die GIs mit einer Waffe verwechselten. Nicht nur den Videomitschnitt des Angriffs spielte er Wikileaks zu, auch ungefähr 250.000 vertrauliche Depeschen, in denen amerikanische Diplomaten schilderten, wie sie wirklich über ihre Gastländer und deren Politiker dachten. Der Obergefreite war die Quelle, mit der die von Julian Assange gegründete Enthüllungsplattform ihren ersten großen Coup landete.

Bei alledem ist es eine Geschichte mit vielen Facetten. Als Manning vor Gericht stand, zeichnete sein Verteidiger das Bild eines von Idealen beseelten, wenn auch naiven Weltverbesserers, der nie hätte zur Armee gehen dürfen. Ein schmächtiger, schwuler Soldat, der sich obendrein als Frau fühlte: In der Machowelt des Militärs sei er fehl am Platz gewesen. Manning selber hatte am Ende des Verfahrens mit Worten, die an einen Kniefall grenzten, um Nachsicht gebeten. "Ich frage mich, wie ausgerechnet ich, ein Analyst von niedrigem Rang, glauben konnte, dass ich die Welt zum Besseren ändern würde."

Die Reue dient dem Weißen Haus nunmehr als Argument, um nicht nur die Freilassung zu rechtfertigen, sondern auch, um zu begründen, warum ein Whistleblower ähnlichen Kalibers nicht ebenfalls begnadigt wird. Edward Snowden, das Computergenie, das die Abhöroffensive der NSA offenlegte. Bei ihm, so Obamas Sprecher Josh Earnest, lägen die Dinge anders. Manning habe sich der Justiz gestellt und Fehler eingestanden. Snowden dagegen sei "in die Arme des Feindes" geflohen. Dass Snowden nicht mehr wegkam nach seiner Landung in Moskau, weil er nach einer Intervention Washingtons keinen gültigen Reisepass mehr besaß, erwähnte Earnest allerdings nicht.

Assange wiederum hatte einst wissen lassen, dass er sich an die USA ausliefern lassen werde, sobald Manning freikomme. Sobald der Whistleblower auf freiem Fuß sei, sei er bereit, seinen Zufluchtsort, die Botschaft Ecuadors in London, zu verlassen, hatte er früher erklärt. Am Mittwoch ließ er seine Anwälte verkünden, es sei noch zu früh zu sagen, ob es tatsächlich zu einer Auslieferung komme.

(RP)
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