Sönke Neitzel "Ohne 1917 kein Nationalsozialismus"

Der Potsdamer Historiker beschreibt die totalitären Bewegungen als Kinder der Kriegsniederlage. Dennoch habe es für Europa nach 1918 eine Chance zum Frieden gegeben.

Dass 1917 eine Wasserscheide der Geschichte ist, ist unter Historikern unbestritten. Heute richtet sich das Interesse eher auf andere Fragen: die Erfahrung der Gewalt etwa und ihre Folgen für die Zwischenkriegszeit. Sönke Neitzel (48), Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam, hat dazu geforscht. Von seinen Werken hat in Deutschland das Buch "Soldaten" über Verrohung und Kriegsverbrechen die meiste Beachtung gefunden. Neitzel ist auch Fernsehzuschauern als viel gefragter Experte bekannt.

Herr Professor Neitzel, warum ist 1917 das Epochenjahr des Weltkriegs?

Neitzel Weil in diesem Jahr mit dem Kriegseintritt der demokratisch-liberalen USA und der Oktoberrevolution der Bolschewiki zwei Ideologien auf die Weltbühne treten, die das 20. Jahrhundert ganz wesentlich geprägt haben. 1917 war die Welt im 20. Jahrhundert angekommen.

Hat sich Europa 1914 tatsächlich in einen "zweiten Dreißigjährigen Krieg" gestürzt, der erst 1945 endet, wie immer wieder zu hören ist? Endet der Erste Weltkrieg also 1918 gar nicht wirklich?

Neitzel Der Erste Weltkrieg endete gerade in Osteuropa nicht einfach über Nacht, und der Kontinent kam erst 1922/23 zur Ruhe. Von einem "zweiten Dreißigjährigen Krieg" würde ich aber auf keinem Fall sprechen. Der Frieden hatte seine Chance.

Im Krieg fallen zivilisatorische Schranken, Sie haben selbst dazu geforscht. Werden diese Schranken nach 1918 wieder aufgerichtet?

Neitzel Es wird zumindest versucht. Der Völkerbund ist da vor allem zu nennen, der Briand-Kellogg-Pakt zur Ächtung des Angriffskrieges und weitere Abkommen mehr. Doch das war nur die eine Seite der Medaille. Gerade die Militärs waren landauf und landab der Meinung, dass der nächste Krieg noch totaler werden müsste.

Inwiefern prägt der Krieg Europa in der Zwischenkriegszeit, abgesehen von seinen politischen Folgen? Wie giftig ist das Erbe der Gewalt, das der Krieg hinterlässt?

Neitzel Es war nun nicht so, dass sich alle auf der Straße totgeschlagen hätten. Das Ausmaß gewöhnlicher Gewaltverbrechen stieg im Vergleich zur Vorkriegszeit nicht an. Es war eher das Gift in den Köpfen. Der Erste Weltkrieg hat mehr Probleme geschaffen, als er löste, und zu viele konnten sich mit dem Ausgang des Krieges nicht abfinden.

Die Staaten Osteuropas werden nach 1918 zu einem Pufferraum zwischen dem Westen und der Sowjetunion. Wie hat das Mentalität und Politik dieser Staaten geprägt?

Neitzel In Polen ist der Erste Weltkrieg positiv besetzt, weil er die Wiederauferstehung der polnischen Nation markiert. Deutschland und die Sowjetunion waren in den 20er Jahren noch keine Bedrohung. Das hat sich erst in den 30ern geändert. 1939 wurde dann zum Trauma, was bis heute nachwirkt. Die Situation war freilich in einem Staat wie der Slowakei oder in Ungarn wieder ganz anders.

1917 übernehmen die Bolschewiki in einer blutigen Revolution die Macht in Russland. 1919 entsteht in Italien die Bewegung des Faschismus, kurz darauf in Deutschland der Nationalsozialismus. In welchem Zusammenhang stehen diese totalitären Bewegungen?

Neitzel Sie sind eine radikale Antwort auf die Krise des alten monarchischen Systems, das nicht in der Lage ist, sich unter den Belastungen des Ersten Weltkrieges evolutionär weiterzuentwickeln, und schließlich wie ein Kartenhaus zusammenbricht.

Ohne 1917 kein Faschismus, kein Nationalsozialismus?

Neitzel Ein klares Ja! Die Voraussetzung für den Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus war die gefühlte oder die reale Niederlage im Weltkrieg. Italien wurde im Herbst 1917 militärisch k.o. geschlagen, und mit dem Kriegseintritt der USA im April 1917 war für Deutschland der Krieg verloren.

Der Erste Weltkrieg bringt das massenhafte Töten bis zum Exzess, unter anderem durch Gas. Führen aus den Schützengräben auch Wege nach Auschwitz?

Neitzel Irgendwie hängt immer alles mit allem zusammen, aber eine direkte Verbindung gibt es nicht. Obwohl: Hätten die indischen Soldaten bei Ypern 1914 besser gezielt und den Gefreiten Adolf Hitler getroffen, wäre der Welt viel erspart geblieben.

MARLEN KESS STELLTE DIE FRAGEN.

(RP)
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