Trump, Aleppo, Flüchtlinge Ordnung ist nur das halbe Leben

Düsseldorf · 2016 war ein Jahr maximaler politischer Unordnung. Die Vitalität unseres politischen Systems aber lebt von der Auseinandersetzung mit dem Unerwarteten. Denkanstöße liefert ausgerechnet das Grundsatzprogramm der CSU.

 Im Stil sozialistischer Bruderkuss-Propaganda warb diese Wandzeichnung in Bristol für den britischen Verbleib in der EU - vergeblich. Zu sehen sind Donald Trump (l.) und der Brexit-Befürworter Boris Johnson, der heute britischer Außenminister ist.

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Nein, Politik ist nichts für Professor Abel Cornelius, diese "gegenwärtige Umwälzung, gesetzlos, unzusammenhängend und frech". Cornelius ist Historiker, und dem behagt "die Stimmung des Zeitlosen und Ewigen" weit mehr.

Das könnten problemlos Gedanken von 2016 sein. Was Professor Cornelius da angedichtet wird, ist jedoch mehr als 90 Jahre alt. Cornelius ist die Hauptfigur in Thomas Manns 1925 erschienener Novelle "Unordnung und frühes Leid", die in der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg in München spielt. Dem braven Geschichtsprofessor ist die Gegenwart zuwider; die Unordnung der Zeitläufte macht ihm zu schaffen.

Maximale politischer Unordnung

Genau deshalb ist Abel Cornelius unser Zeitgenosse. 2016 war ein Jahr maximaler politischer Unordnung. Die Briten haben überraschend für den Austritt aus der EU votiert. Italiens Zukunft ist ungewisser denn je, seit das Wahlvolk seinen Regierungschef Matteo Renzi aus dem Amt gestimmt hat. In Deutschland schickt sich zwar Angela Merkel an, zur ewigen Kanzlerin zu werden und die große Koalition in einem Aufwasch zur immerwährenden Regierung zu machen - zugleich aber pflügt die AfD die Landschaft um. Ein Ende des Mordens im Nahen Osten ist nicht absehbar; die Türkei rutscht nach dem Putschversuch in beängstigendem Tempo Richtung Autokratie. Und, natürlich: In den Vereinigten Staaten wird Donald Trump Präsident, ein politisches Erdbeben, dessen Größenordnung noch gar nicht abzusehen ist.

Besonders auffällig hat wieder einmal die CSU auf das Tohuwabohu reagiert. Das Grundsatzprogramm, das sich die Christsozialen im November gegeben haben, heißt "Die Ordnung". Viel ist darin von Prinzipien die Rede, "Recht und Ordnung", "globalen Stabilitätsgrundlagen" - alles irgendwie bekannt. Am Schluss heißt es dann: "Wir stehen für eine gute Ordnung. Gute Ordnung für ein gutes Leben." Ordnung ist das halbe Leben, weiß der Volksmund, und die CSU weiß es auch: gute Ordnung ohne Artikel, nicht als Gegensatz eines Systems zu einem anderen, sondern als Gegensatz zum Chaos.

Staatlicher Kontrollverlust

Die CSU will Ordnung schaffen. Man mag das als politischen Waschzwang belächeln, aber das griffe zu kurz. Der Ordnungswunsch der CSU ist nicht reaktionär wie die nationalistischen Aufräumfantasien der AfD, er ist zutiefst bürgerlich. Professor Cornelius wäre heute auch in der CSU. Auf 47 Seiten 111 Mal "Ordnung" zu sagen, hat zwar etwas Fetischistisches, ebenso wie die unlogische Forderung des CSU-Politikers Manfred Weber, staatlichen Kontrollverlust wie in der Flüchtlingskrise gesetzlich zu verbieten - die Rechtsnormen gab es ja, sie wurden nur nicht eingehalten. Man kann schlecht ins Gesetz schreiben, dass Gesetze doch auch bitte wirklich zu gelten haben. Insgesamt aber zeigt die CSU mit ihrem Ordnungsplädoyer mustergültig, was es heißt, konservativ zu sein.

Der Staat hat Rechtsfrieden zu gewährleisten und öffentliche Sicherheit. Das ist die objektive Dimension. Staatliche Ordnung ist aber auch subjektiv: Sie produziert eine eigene Art innerer Sicherheit - Verlässlichkeit. Der Bürger (und zwar nicht nur der konservative) möchte abends mit dem Gefühl ins Bett gehen, dass die öffentlichen Strukturen auch am nächsten Morgen intakt sind.

Und doch ist Ordnung tatsächlich nur das halbe Leben. Sosehr sich in der Politik Parteien und Regierungen um einen geordneten Ablauf der Geschehnisse bemühen - manchmal ist dann eben doch alles eitel. Der Grund kann ein Bürgerkrieg sein wie in Syrien, der die deutsche Politik durcheinanderwirbelt; der Grund kann aber auch eine Präsidentschaftswahl in den USA sein, die ein ganz unerwartetes, ja für viele undenkbares Resultat bringt.

Ordnung stets neu produzieren

Die Wechselbeziehung zwischen Ordnung und Unordnung ist hochdynamisch, erst recht in der globalisierten Welt. Das politische System der Bundesrepublik muss seine Ordnung angesichts der Umwälzungen stets neu produzieren, um die Tendenz zu Auflösung und Zerfall im Griff zu behalten. Selten wurde das so schlagend deutlich wie 2016. Ordnung ist dabei - und da springt dann auch die CSU zu kurz, aber sie hat ja auch ein Programm verfasst und keine soziologische Doktorarbeit - allerdings nicht bloß das Gegenprinzip zum Chaos. Ordnung und Unordnung schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich; (Ordnungs-)Politik ist der Versuch, das tägliche Chaos zu bändigen und es nutzbar zu machen.

Der Politikwissenschaftler Andreas Anter spricht deshalb von der "Paradoxie der Ordnung". Aus dem ständigen Prozess "von Ordnungsbildung und Ordnungszerfall" zieht er zwei Konsequenzen. Erstens: Politische Gemeinschaften müssen "dauernd darum bemüht sein, das Bewusstsein der Notwendigkeit ihrer Existenz wachzuhalten". Das erfordert Vermittlung demokratischer Werte - politische Bildung. Zweitens: Nur was flexibel ist, ist stabil. Anter: "Eine Ordnung kann sich nur behaupten, indem sie sich stets selbst erneuert - und vor allem ein relevantes Potenzial von Unordnung enthält."

Die Liebe zum Zeitlosen

Man kann Trumps Wahl zur globalen Katastrophe erklären. Man kann sie auch als Beweis sehen, wie vital eine Demokratie ist, deren Wahlvolk mit diesem rüpelhaften Parvenü nun etwas tatsächlich völlig Neues ausprobiert. Die Institutionen der USA werden auch einen Trump verdauen. Man kann die Flüchtlingskrise zu Deutschlands Untergang stilisieren. Die Kölner Silvesternacht und jede neue Nachricht über einen jungen Syrer, der bei uns zum IS-Schergen wird, scheinen den Schwarzmalern recht zu geben. Man kann all das aber auch als Anstoß verstehen, über unsere politische Ordnung nachzudenken, uns über wichtige Fragen des Zusammenlebens neu oder überhaupt zu verständigen. Das Verhältnis zum Islam ist zum Beispiel eine.

Absolute Ordnung ist nicht nur totalitär, sie wäre auch nicht zukunftsfähig. Das restlos Geordnete erstarrt. Das weiß übrigens, bei allem Leiden an der Unordnung, auch Abel Cornelius: Die Liebe zum Zeitlosen, also zur Geschichte statt zur Gegenwart, ist die Liebe zum Tod. "Das Vergangene ist verewigt, das heißt: Es ist tot", das sieht der Professor ein, "heimlich, wenn er allein im Dunkeln geht". Aber er sieht es ein. Ein kluger Mann, dieser Abel Cornelius.

(fvo)
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