Scharfe Kritik an Russland Polens Angst vor einem neuen Krieg

Berlin · Das Weltkriegsgedenken gerät zu scharfer Kritik an Russland. Polens Präsident kritisiert die "Wiedergeburt einer nationalistischen Ideologie.

Aussöhnung über den Gräbern, vertiefte Partnerschaft als Konsequenz aus millionenfachem Blutvergießen - das sollten die Stichworte für die Gedenkveranstaltungen 75 und 100 Jahre nach dem Beginn der Weltkriege sein. Doch die seit Jahrzehnten eingeübte Beschwörung eines friedlichen Europas funktioniert nicht mehr, seit in der Ost-Ukraine Gefechte toben. Wenn in Syrien Zehntausende von Zivilisten sterben und islamistischer Terror den Irak überzieht, wirkt jedes "Nie wieder!" grausam deplatziert. Polens Präsident Bronislaw Komorowski sah gestern im Bundestag durch das russische Vorgehen ganz Europa in Gefahr.

Schon lange habe die Krise in der Ukraine nicht mehr die Dimension eines regionalen bilateralen Konfliktes. Der gesamte Kontinent sei herausgefordert. "Durch den Angriff auf die Ukraine greift Russland die Fundamente einer demokratischen Gemeinschaft an, ihre Rechte und Werte, aber auch den fundamentalen Grundsatz einer zivilisierten Welt: das Prinzip der Achtung vor der Souveränität der Staaten", sagte Komorowski.

Zuvor hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) an die schreckliche Bilanz des vor 75 Jahren von Deutschland begonnenen Krieges mit 50 Millionen Toten erinnert. Polen sei das erste Opfer gewesen, die Polen hätten länger gelitten als alle anderen unter der deutschen Besatzung. Deshalb sei es tatsächlich ein "Wunder", dass Polen und Deutsche sich nicht nur als Nachbarn vertragen, sondern als Freunde mögen.

Auch Lammert zog einen Bogen von den Kriegsjahren zu den aktuellen Bedrohungen und griff Kritik an der Sensibilität Polens gegenüber dem russischen Vorgehen in der Ukraine auf: Wer heute gelegentlich "polnische Empfindlichkeiten" beklage, der habe "offenbar keine rechte Vorstellung von dem Trauma einer Nation, die über mehrere Jahrzehnte als Staat von der Landkarte verschwunden war". Vor dem deutschen Überfall 1939 auf Polen hatte sich Hitler mit Stalin in einem geheimen Zusatzprotokoll zum "Nichtangriffspakt" auf die Aufteilung Polens verständigt.

75 Jahre nach Kriegsbeginn und zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung ist für Komorowski durch die Vorgänge in der Ukraine, in Syrien, in Libyen und im Irak der Glauben in die eigenen Kräfte und die Effizienz jener Institutionen in Frage gestellt, die mit viel Mühe geschaffen worden seien. Die Bewegungen, die dort die Freiheit bedrohten, seien verschieden. "Aber eins ist ihnen gemeinsam: Sie verachten Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheiten", kritisierte Komorowski.

Es sei "kein Zufall", dass die Ukrainer mit dem Verlangen nach Souveränität bei einer benachbarten Großmacht "Wut" und später eine "europaweit beispiellose Aggression" ausgelöst hätten: "Vor unseren Augen vollzieht sich nämlich die Wiedergeburt einer nationalistischen Ideologie, die unter dem Deckmantel humanitärer Parolen über den Schutz von nationalen Minderheiten die Menschenrechte und das Völkerrecht verletzt", stellte Komorowski fest - und legte mit einem weiteren historischen Vergleich nach: "Wir kennen das allzu gut aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts."

Keinen würde es mehr freuen als die Polen, Russland als "bewährten und voraussehbaren Partner zu haben", gab Komorowski zu Protokoll. Schließlich habe wie die Europäische Union auch Polen viel investiert in die Annäherung zu Russland. Die aktuelle Politik Russlands stelle deshalb eine tiefe Enttäuschung und vielschichtige Herausforderung dar.

Der Appell des Gedenkredners: das russischsprachige Medienangebot und deren Sendebereiche über die Grenzen Europas auszuweiten, um "gegen Lügen vorzugehen". Vom Recht auf Unabhängigkeit und souveräne Entscheidungen dürfe die EU nicht abrücken. Zudem müsse es neben humanitärer Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau auch Rat geben, wie die Ukraine Verwaltung und Wirtschaft verbessern, Korruption bekämpfen und das Verteidigungssystem reformieren könne.

Viele Abgeordnete sprachen anschließend von "beeindruckenden" Reden. Aber nicht mit allem waren sie zufrieden. So bedauerte SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer im Gespräch mit unserer Zeitung, dass Komorowski nicht auf die gemeinsamen Verhandlungserfolge und die Geschlossenheit der EU in der Ukraine-Krise hingewiesen habe. Die Diplomatie spiele zur Lösung des Konflikts eine entscheidende Rolle, sagte Schäfer. "Das hätte Komorowski deutlicher machen müssen."

(may- / qua)
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