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Islamisten im Gefängnis Die Radikalisierung hinter Gittern

Düsseldorf · Bundesweit sitzen derzeit 155 Islamisten in den Gefängnissen verschiedener Bundesländer. Ein gemeinsames Agieren der Justiz gibt es nicht. Der NRW-Justizminister fordert jetzt ein länderübergreifendes Vorgehen, um besser verstehen zu können, was innerhalb der JVAs unter Islamisten passiert.

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"Deutschland wird im Visier der Terroristen bleiben"

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Foto: qvist /Shutterstock.com/Retusche RPO

Die deutschen Strafvollzugsbehörden müssen sich immer häufiger mit radikalen Islamisten auseinandersetzen. Derzeit befinden sich bundesweit 155 von ihnen in Straf- oder Untersuchungshaft, wie eine Umfrage unserer Redaktion bei den Justizministerien der Bundesländer ergab. Das sind knapp 30 Prozent mehr als noch im vergangenen Jahr.

"Die Dunkelziffer von Islamisten in den Gefängnissen ist wahrscheinlich noch viel höher", sagt René Müller, Vorsitzender des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands. Gemeint ist die Zahl derer, die wegen ganz anderer Delikte in Haft sitzen, aber mit Terrorvereinigungen wie dem IS sympathisieren. Und längst nicht alle zeigen ihre Gesinnung offen. "Das Personal ist auf diese neuen Herausforderungen nicht ausreichend vorbereitet. Es fehlt einfach an Schulungen und Fortbildungen", sagt Müller.

Außerdem bereite es in einigen Bundesländern zunehmend Schwierigkeiten, geeignete Imame und Dolmetscher zu finden. Die Resozialisierung radikaler Islamisten werfe immer noch große Fragen auf. "Ich sehe in ganz Deutschland kein nachhaltiges Konzept dafür", beklagt Müller.

Bayern an der Spitze

Mit 51 Islamisten sind die meisten derzeit in Bayern inhaftiert, gefolgt von Berlin (35) und Nordrhein-Westfalen (34). Die drei Bundesländer haben auch den stärksten Anstieg seit 2015 zu verzeichnen. Rund die Hälfte aller Islamisten befindet sich in Untersuchungshaft. In fünf Bundesländern sitzen keine Islamisten in den Gefängnissen, dazu zählt auch Sachsen. Der Freistaat hatte im Oktober für Aufsehen gesorgt, als sich der mutmaßliche IS-Terrorist Dschaber al Bakr in der JVA Leipzig das Leben nahm.

Deutschlandweit gibt es über 520 islamistische Gefährder, wie Innenminister Thomas de Maizière (CDU) im September sagte. Weitere 360 Menschen würden von den Bundesländern als "relevante Personen" eingestuft. Justizkreise fürchten, dass es Islamisten gelingen könnte, hinter Gittern Mithäftlinge zu radikalisieren. So wie der Pariser Attentäter Chérif Kouachi, der sich in Frankreich während seiner Haft radikalisiert haben soll und den Anschlag auf die Satire-Zeitung "Charlie Hebdo" mitverübte. "Die Gefahr ist groß. Das muss man im Fokus haben", sagt René Müller.

Beamte sollen Gespräche verstehen können

Das NRW-Justizministerium hat eigenen Angaben zufolge keine Erkenntnisse darüber, dass sich Gefangene in NRW zusammenrotten, um radikal-islamistische Ziele zu verfolgen. "Natürlich haben Kollegen bei der aktuellen politischen Lage ein mulmiges Gefühl, wenn sich arabisch sprechende Gefangene auf dem Freistundenhof zusammenstellen und miteinander sprechen", heißt es aus dem Ministerium. Deshalb müssten die Beamten so geschult sein, dass sie ein harmloses Gespräch von ersten Radikalisierungstendenzen unterscheiden können.

Landesjustizminister Thomas Kutschaty (SPD) fordert daher länderübergreifende Anstrengungen: "In einer Zeit, in der Salafisten innerhalb weniger Flugstunden Regionen in der Welt erreichen können, in denen sie sich terroristisch ausbilden lassen können, müssen wir unsere Aktivitäten zwischen den Bundesländern austauschen und abstimmen." Das Thema sei zu Recht regelmäßig auf der Tagesordnung der Justizministerkonferenz. "Wichtig ist, dass wir uns über das Ausmaß einer möglichen Gefährdung bundesweit informieren und darauf angemessen reagieren", sagt Kutschaty. Dabei sei Panik nicht angebracht. "Aber wir dürfen auch nicht die Augen vor möglichen Fehlentwicklungen verschließen."

Zu radikalen Islamisten zählt die Justiz zum Beispiel jene, die eine schwere staatsgefährdende Straftat vorbereitet haben oder an der Bildung terroristischer Vereinigungen beteiligt gewesen sind. Anfang Oktober verurteilte beispielsweise das Oberlandesgericht Düsseldorf den 23-jährigen Kerim Marc B. wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass B. nach Syrien gereist war und sich dort dem IS angeschlossen hatte. Nach seiner militärischen Ausbildung soll er an bewaffneten Kampfhandlungen teilgenommen haben. Mittlerweile wurde gegen das Urteil Revision eingelegt. Ebenfalls in Düsseldorf wird derzeit der Fall des Konvertiten Sven Lau aus Mönchengladbach verhandelt, der sich wegen Unterstützung einer islamistischen Terrormiliz verantworten muss.

Im NRW-Vollzug sind nun extra 79 neue Planstellen geschaffen worden. Das Schulungs- und Fortbildungsangebot soll weiter ausgebaut, der Anteil von Migranten im Justizdienst erhöht werden. Derzeit laufen außerdem Gespräche mit dem Koordinationsrat der Muslime und Vertretern der alevitischen Gemeinde, um auch die religiöse Betreuung der Gefangenen sicherzustellen. Und zwar so, dass sie auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erfolgt. Und nicht durch Radikale.

(lukra)
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