Roman Herzog † Ein Mann, ein Land, ein Ruck

Düsseldorf · Ob Roman Herzog ein Konservativer oder ein Liberaler war, ließ sich nie klar beantworten. In jedem Fall war er ein Politiker, der fehlendes Reform- und Durchsetzungsvermögen in der Politik stets scharf getadelt hat.

Bilder aus dem Leben von Roman Herzog
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Foto: dpa, dna soe fpt jai

Wie alle Menschen von Bedeutung war auch der im Alter von 82 Jahren verstorbene frühere Bundespräsident Roman Herzog vielschichtig: einerseits hochintelligent und juristisch gelehrt, andererseits erdverwachsen, burschikos oder, wie er es selbst einmal formuliert hat: von einiger Wurschtigkeit. Der Mann, der schon auf dem Hans- Carossa-Gymnasium in Landshut Primus und Klassensprecher gewesen war und dessen Abitur-Zeugnis von 1953 eine Aneinanderreihung von "Sehr gut" ausweist (nur hinter Sport steht: "befreit"), redete mit vielen Zungen: mal belesen und ziseliert als deutscher Großgelehrter des Staatsrechts, mal ruppig-rustikal als gleichsam erster Stammtischbruder der Nation.

Wer Menschen gerne nur über einen Leisten schlägt, den irritierte Roman Herzog, ob als Landesminister für Kultus und Inneres in Baden-Württemberg, als Präsident des Bundesverfassungsgerichts oder als Staatsoberhaupt.

Selbst an seinen persönlichen Behausungen lässt sich Herzogs Hang ablesen, sich ungern irgendwo einsortieren zu lassen. Noch als höchster Richter des Landes lebte er in einer mittelgroßen Wohnung eines betongrauen Hochhauses am Karlsruher Stadtrand. Diejenigen, die ihn dort aufsuchten, empfanden die Einrichtung nicht als gehoben, eher als popelig. Derselbe Mensch ließ wiederum nach seinem Einzug in die noble Berliner Bundespräsidenten- Bleibe Schloss Bellevue fünf Amtsjahre lang keinen Zweifel daran, dass er diese Form von großzügiger Behaglichkeit mit höchstem Komfort als vollkommen passend und seinem Status angemessen empfand.

Lust am kraftvollen Ausdruck

Nachdem er seine sehr sympathische erste Ehefrau Christiane verloren hatte, heiratete er 2001 deren Freundin Alexandra Freifrau von Berlichingen und zog zu ihr auf die Götzenburg Jagsthausen, eine Autostunde nördlich von Stuttgart gelegen. Noch als Pensionär, der er seit 1999 war, frönte er als gleichsam angeheirateter Nachfahre des legendär deftigen Ritters Götz von Berlichingen seiner Lust am kraftvollen Ausdruck. Im Interview mit unserer Zeitung erwähnte er das 17 Meter tiefe Burgverlies und spottete: "Ich wette, da vermodern auch schon ein paar Journalisten."

Wenige Atemzüge später wog derselbe Alt-Bundespräsident sorgfältig seine Worte beim distanziert- kritischen Blick auf die politische Lage daheim und in der Welt. Er mahnte, Berlin möge bei aller berechtigten Kritik an Putin mit Russland Verständigung suchen. Er forderte Konsequenz in der Europapolitik: "Wir Europäer werden uns zusammenraufen müssen, wenn wir in der neuen Welt politisch und wirtschaftlich nicht untergehen und unsere Wertvorstellungen von Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit durchsetzen wollen." Er tadelte scharf ein politisches Durchsetzungs-Defizit, etwa in der Steuerpolitik. Die sogenannte kalte Progression, die Steuerpflichtige, die mehr Bruttogehalt durch ihre Arbeit erzielen, am Ende netto zu Verlierern macht, nannte Herzog amoralisch. Wenn diesem frappierend gebildeten Niederbayern von kräftiger Statur und notfalls schnoddrigem Umgangston etwas über die sprichwörtliche Hutschnur ging, konnte er schimpfen wie ein Stallbursche oder zumindest denjenigen, denen sein momentaner Zorn galt, auf kalkulierte Lehrmeister-Art die Ohren langziehen. So präsentierte sich der siebte Bundespräsident, der 1994 zwei Gegenkandidaten hatte (Johannes Rau und Hildegard Hamm- Brücher) und erst im dritten Wahlgang gewählt wurde, am 26. April 1997 im Berliner Hotel "Adlon" vor Vertretern der sogenannten Elite. Herzogs wachsendes Unverständnis für fehlende Reformbereitschaft im Land brach sich Bahn in jenem Sechs-Wörter-Appell, der heute ein geflügeltes Wort ist: "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen." Und wie das meistens geschieht mit gut gemeinten Ratschlägen privater oder staatlicher Autoritäten: Der Ruck blieb weitgehend aus, vorerst zumindest, Roman Herzogs "Ruck-Rede" blieb jedoch eine Chiffre seiner Präsidentschaft in dem ärgerlichen, aber allzu menschlichen Sinne: Er hatte ja recht, aber die Dinge sind halt nicht so einfach.

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Foto: AP/Carlo Fumagalli

Geblieben ist von Herzogs fünfjähriger Amtszeit sein vorbildlich nobles Auftreten im Ausland, auch seine Präsidial-Entscheidung, den 27. Januar als den Tag, an dem 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreit worden war, zum Holocaust-Gedenktag zu bestimmen. Erinnerungswürdig ist Herzogs Unverkrampftheit im Umgang mit der deutschen Geschichte und mit den Menschen, mit denen er zu tun hatte. Seine Gegner hielten ihm oft vor, er nehme im Grunde nichts wirklich wichtig, er sei ein Zyniker, kalt bis ins Herz und insofern auch, was die Staatsschauspielerei betrifft, ein Hochbegabter. Auch die Frage, ob Herzog, der von Helmut Kohl für die Politik entdeckt wurde und 1970 in die CDU eintrat, ein Konservativer war oder doch ein Liberaler, konnte nie beantwortet werden. Herzog selbst sah keinen Grund, sich an der Aufklärung zu beteiligen. Und immer wieder diese biografischen Gegensätze: Als Innenminister in Baden-Württemberg plädierte er für polizeiliche Gummi-Geschosse gegen Demo-Chaoten; im Falle von unmittelbarem Zwang durch die Polizei sollten die Verursacher im Übrigen die Einsatzkosten tragen.

"Ihr könnt mich alle mal . . . gern haben"

Als Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts wiederum repräsentierte und prägte Richter Herzog das berühmte Brokdorf-Urteil, dessen erzliberale, weite Auslegung des Demonstrationsrechts Rechtsgeschichte schrieb. Auch als langjähriger Mitherausgeber und Mitautor eines Standardwerks zum Verfassungsrecht gab sich der Theodor-Maunz- Schüler als liberaler Rechtsstaatler. Irgendwie lag über fast allem, was dieser überragende Kopf, Teilzeit-Grantler und Ironiker von sich gab, ein unausgesprochenes "Ihr könnt mich alle mal . . . gern haben".

Ungewöhnlich an diesem Bundespräsidenten war auch, dass er sich, kaum dass er gewählt worden war, öffentlich dazu bekannte, sich nach Ende der ersten Amtsperiode nicht noch einmal für fünf Jahre zur Verfügung zu halten. Seine Gegner raunten damals: So sei er eben, eine kühl rechnende Beamtennatur, Feierabend mit 65 und dann die Pension genießen. Die Boshaftigkeit verkannte, dass sich Herzog als wohlversorgter Bundespräsident a. D. nicht etwa der Jagd, dem Golfspiel oder dem Briefmarkensammeln verschrieb, sondern sich, wie es heute heißt, in Staat und Gesellschaft vielfältig "einbrachte". Gremien beispielsweise zur Reform des Krankenversicherungswesens oder der Sozialversicherungen im Allgemeinen trugen nicht nur seinen Namen; sie wurden von diesem bis ins Alter quicken Geist auch inspiriert. An der politischen Befolgung haperte es allerdings ähnlich wie beim Beifall spendenden Weghören nach der "Ruck-Rede".

Vielleicht hielt es Roman Herzog auf seine ironisch-rustikale Art gegenüber menschlichen Schwächen mit dem saloppen Spruch eines berühmten Juristen-Kollegen: " Ich kann die Pferde bloß zur Tränke führen, saufen müssen sie schon selbst."

(mc)
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