Düsseldorf Rückkehr der letzten 10 000 Kriegsgefangenen

Düsseldorf · Vor 60 Jahren brach Adenauer zu einer heiklen Mission nach Moskau auf: Er wollte die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause holen.

Einmal, an einem jener turbulenten und nervenaufreibenden Verhandlungstage im Spiridonowka-Palais in Moskau, springt Nikita Chruschtschow wutentbrannt auf und droht dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer mit erhobener Faust. Doch der "Alte" bleibt ungerührt, ahmt die Geste spielerisch nach - was den Parteichef der KPdSU zunächst verblüfft. Dann bricht der kleine (160 cm), rundliche Chruschtschow vor dem langen (188 cm), schlanken Adenauer in ein schallendes Gelächter aus. Man schreibt das Jahr 1955.

Viel steht zwischen diesen beiden ungleichen Verhandlungspartnern auf dem Spiel: Knapp 10 000 ehemalige deutsche Soldaten schmachten noch immer als Kriegsgefangene in sowjetischen Lagern - Wehrmachts-, aber auch SS-Angehörige. Adenauer will sie zurück nach Deutschland holen. Ein Jahrzehnt ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, da lädt am 7. Juni die Sowjetunion den deutschen Bundeskanzler zu Gesprächen nach Moskau ein. Chruschtschow wünscht die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu West-Deutschland. Eine heikle Mission für den deutschen Kanzler.

Denn 1955 ist ein entscheidendes Jahr für die deutsche Politik. Seit sechs Jahren existieren zwei deutsche Staaten, gespalten noch nicht durch eine Mauer, aber durch völlig verschiedene politische und gesellschaftliche Systeme. Die Bundesrepublik ist zu diesem Zeitpunkt schon fest in die westliche Staatengemeinschaft eingebunden und schickt sich nun an, eine eigene Armee aufzustellen: die Bundeswehr. Adenauer, ein überzeugte Verfechter der deutschen Einheit, fürchtet, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion könnte die Zweistaatlichkeit zementieren. Andrerseits weiß der 79-Jährige auch: Ohne Moskau wäre auch das Ziel einer Wiedervereinigung unerreichbar. Und da sind eben noch diese knapp 10 000 ehemaligen deutschen Soldaten, die von den Sowjets festgehalten werden. Adenauer verspricht: "Ich gehe nach Moskau mit dem festen Vorsatz, dass unsere Kriegsgefangenen zurückkommen!"

Am 8. September, um 17 Uhr landet die "Super Constellation" der Deutschen in der russischen Hauptstadt. Der Delegation aus dem Rheinland gehört auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) an, der zu dieser Zeit Vorsitzender des Bundesrats-Ausschusses für Auswärtiges ist. Als einziger Vertreter der Opposition ist der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid dabei. Sechs lange Verhandlungstage mit Nikita Chruschtschow und dem sowjetischen Ministerpräsident Nikolai Bulganin liegen vor den Gästen. "Als einen mit Dynamit geladenen ukrainischen Bauen betitelten die Zeitungen damals Chruschtschow", erinnert sich Peter Limbourg. Der inzwischen 100-Jährige lebt in Kevelaer und war damals als Büroleiter des deutschen Außenministers Clemens von Brentano mit von der Partie. "Die Beschreibung traf den Nagel auf den Kopf. Bei gesellschaftlichen Veranstaltungen freundlich, oft charmant, witzig. Das änderte sich schlagartig am Verhandlungstisch. Vor Beschimpfungen der Bundesregierung und persönlichen Beleidigungen des Bundeskanzlers schreckte der Mann nicht zurück." Auch fürchtet man auf deutscher Seite, von den Russen unter Alkohol gesetzt und über den Tisch gezogen zu werden. "Vor jedem Essen oder Empfang versammelten sich die Geladenen deshalb im Salon des damaligen Chefs des Bundeskanzleramtes, Hans Globke, und erhielten dort einen Löffel mit Olivenöl. Die Prozedur ging auf eine Anregung Adenauers zurück, und ich kann nur sagen, dass sie vonnöten war und uns alle vor Schaden bewahrt hat", erinnert sich Limbourg.

Nach einem seiner Ausbrüche, bei dem Chruschtschow der Bundesregierung vorwarf, sie beteilige sich an Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die Sowjetunion, packt Adenauer seine Akten, um zu gehen. Die Sitzung wird vertagt. Im Hotel gibt Adenauer telefonisch Anweisung, das Flugzeug für den Rückflug startbereit zu machen. Er weiß, dass alle Gespräche abgehört werden, und ist daher sicher, dass die sowjetische Seite davon erfährt. Der Bluff gelingt. Auf dem Empfang, den die Sowjets am gleichen Abend geben, nimmt Bulganin Adenauer beiseite und bietet ihm gegen die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen die umgehende Freilassung der Kriegsgefangenen an. Eine letzte Ungewissheit bleibt: Es gibt nichts Schriftliches. Nur das Ehrenwort Bulganins. Aber Adenauer vertraut aufgrund seines Instinkts und seiner Lebenserfahrung darauf, dass die Sowjets Wort halten. Sie tun es.

Auch wenn mehr als eine Million Menschen verschollen bleiben, geht die Heimkehr der Soldaten als Glanztat Adenauers in die Geschichte ein. Bonn war dafür nicht einmal die Anerkennung des DDR-Regimes abgerungen worden. Am 7. Oktober 1955 kommen die ersten 600 der letzten Kriegsgefangenen im Lager Friedland an, wo sich erschütternde Szenen des Wiedersehens wie der bitteren Gewissheit über den Tod von Vermissten abspielen.

Zwei Jahre später erzielt Adenauer bei der Bundestagswahl 1957 für die Union die absolute Mehrheit.

(RP)
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