Moskau Russlands Absturz kann Putin nichts anhaben

Moskau · Die Wirtschaft kriselt, der Optimismus bröckelt. Doch die Russen bleiben ihrem Präsidenten treu.

Ludmila machte sofort einen Rundruf unter ihren Freundinnen. Die Buchhalterin hatte erfahren, dass nun auch westliche Waschmittel unter das russische Einfuhrverbot fielen. Erinnerungen wurden wach an die Sowjetunion, als Waschpulver eine begehrte Mangelware war. "Alte Reflexe", sagt Ludmilla. Noch stehen Persil und Ariel in den Regalen. Ein Verbot von Hygieneartikeln und Arzneien würde selbst waschechte Patrioten vor eine harte Prüfung stellen.

Schon im vergangenen Jahr reagierte Moskau auf die Verhängung westlicher Sanktionen, indem es ein Einfuhrverbot für Lebensmittel aus der EU verfügte. Die Auswahl schrumpfte. Für vieles fand sich jedoch Ersatz: Steaks aus Argentinien, Früchte aus Marokko oder Gemüse aus der Türkei. Die Preise stiegen gleichwohl, und auch das Angebot aus heimischer Produktion wurde teurer. Die Inflation liegt inzwischen bei 16 Prozent. Werden die Bürger nach ihren Sorgen befragt, nennen 78 Prozent in der jüngsten Umfrage des Lewada-Instituts an erster Stelle die Preisexplosion. Der Reallohnverlust beträgt übers Jahr gerechnet rund zehn Prozent.

Die Ausdünnung des Käsesortiments und die als Importersatz angebotene milchfreie Kaumasse aus Palmöl nahmen die Verbraucher stoisch hin. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hatte auch keine Einwände, als der Kreml im Sommer zum Kampf gegen westliche Schmuggelware aufrief und diese in rituellen Handlungen öffentlich vernichtete — inszeniert als Opfer für den Zusammenhalt der Nation.

Apathie, gar Selbstzerstörung?

In der simulierten Atmosphäre äußerer Bedrohung werden auch kritische Stimmen immer vorsichtiger. Zuletzt richtete die russische Generalstaatsanwaltschaft landesweit Hotlines ein, bei denen Verstöße gegen das Einfuhrverbot gemeldet werden können. Zum ersten Mal können sich Bürger offiziell als Mitvollstrecker staatlichen Willens fühlen. Ausgestattet mit dem Recht zum Schnüffeln. So wurden Nachbarn in Wladiwostok wegen des Verzehrs von "unpatriotischen" Gänsen angeschwärzt. Verführerische Bratengerüche hatten sie verraten.

Die Gesellschaft sei gerade im Begriff, sich selbst zu zerstören, meint Lew Gudkow vom Lewada-Zentrum. Auch das Individuum werde von dieser Zerstörung erfasst. Daher rege sich kein Widerstand in der Gesellschaft. Auch Alexei Makarkin vom Zentrum für Polit-Technologie in Moskau will beobachtet haben, dass die Bürger im Zuge der abklingenden Krim-Euphorie in Apathie verfallen.

Dennoch unterstützen laut Lewada-Umfrage 83 Prozent nach wie vor den Präsidenten. Ein gewaltiger Zuspruch, der jedoch instabil und sehr widersprüchlich sei, meint Gudkow. Nicht zuletzt spiegelt der astronomische Wert auch Alternativlosigkeit wider. So beklagen etwa 85 Prozent, dass sie auf nichts mehr Einfluss nehmen können — bestenfalls noch auf die Familie. Selbst das kremlnahe Meinungsforschungsinstitut VZIOM stellte im September fest, dass die "Lebenszufriedenheit" der Russen gesunken ist. Seit vier Monaten in Folge schrumpft der Optimismus-Index.

Dass sich die Krise schneller ausweitet als erwartet und die Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Bürger um drei auf 23 Millionen gestiegen ist, kann Wladimir Putin jedoch nichts anhaben. Bereits im 1. Halbjahr lag der durchschnittliche Reallohn unter dem Chinas und Mexikos. Doch das Volk erwartet vom Präsidenten nicht, dass er sich in die Niederungen des Regierens begibt. Putin ist für Russlands Image zuständig. Dass Russland in einer strukturellen Krise steckt, die von den westlichen Sanktionen nur verstärkt wird, verschweigt Putin. Vielleicht, weil es dem Eingeständnis eines Versäumnisses gleichkäme, in 16 Jahren seines Regiments die Weichen für Modernisierung nicht gestellt zu haben.

(RP)
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