Moskau Russlands patriotischer Puritanismus
Moskau · Zum 70. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland herrschen Hysterie und Denunziation im Land.
Tanzende und singende Russinnen gehören offenbar zu einer Risikogruppe, von der erhöhte Gefahr für den russischen Staat ausgeht. Zwischen zehn und 15 Tagen Haft erhielten drei junge Frauen in der Schwarzmeerstadt Noworossijsk für eine Tanzeinlage, die sie ins Netz stellten. Der Bürgermeister hatte von dem Video Wind bekommen und Ermittler auf die hopsenden Teenager angesetzt. Die versuchten sich am Twerk, dem Modetanz, der eine rückwärtsausladende Hockstellung verlangt. Die wackelnden Gesäße waren es aber nicht, die den Bürgermeister in Erregung versetzten, die Topographie tat's. "Malaja semlja" heißt der Ort der Performance, eine Anhöhe über dem Meer, die im Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschen und Sowjets hart umkämpft war. Seit den 1980er Jahren erinnert ein Mahnmal an das Blutvergießen. Das sei nun entweiht, meint die Behörde.
Den Feiern zum 70. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland kommt mehr Bedeutung zu als sonst. Moskaus Selbstisolation erhöht die identitätsstiftende Funktion. Der Kreml stilisiert sich zum Opfer ewiger Ungerechtigkeiten. Jeder möchte vor dem Jubiläum einen Beitrag zum patriotischen Großen und Ganzen leisten. Eine beispiellose Welle der Denunziation schwappt über das Land.
Der Kreml muss weder Verbote verhängen noch zu Wachsamkeit mahnen. Der Untertan spürt, was der Obrigkeit gefallen könnte. Nicht selten trägt die Willkür groteske Züge: So wurden aus Spielwarengeschäften die Wehrmachtssoldaten entfernt. Für Generationen von Jungen garantierten sie bisher "antifaschistische" Erziehung von Kindesbeinen an. Grund des Eingriffs war der Verdacht auf Extremismus: das Hakenkreuz an der Uniform.
Nicht zuletzt werden auch Wissenschaftler verdächtigt, die Auslandskontakte unterhalten. Soeben wurde ein Physiker des Landesverrats angeklagt, der auf Einladung im Ausland einen Vortrag gehalten hatte. Die Öffentlichkeit sehnt sich nach Verbot und Zensur. Weder Moral noch Kriterien existieren, künstliche Tabus haben deren Rolle übernommen.
