Analyse Schotten zwischen Herz und Verstand

London · Die Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit setzen auf starke Gefühle, die Gegner vor allem auf kalte Sachargumente. Am Ende könnten die vielen Ungewissheiten einer Loslösung von London den Ausschlag geben.

Gestern, knapp drei Wochen vor dem Referendum in Schottland am 18. September, wurde es für ein knappes Fünftel der Bürger ernst: Sie erhielten die Unterlagen für die Briefwahl. Trotzdem aber hätten viele von ihnen, bevor sie eine Entscheidung treffen, gerne klare Antworten auf alle Unwägbarkeiten, die eine Unabhängigkeit mit sich bringen würde. Zu viele Fragen - sei es über Schottlands Ölreserven, über eine künftige EU-Mitgliedschaft oder die nationale Währung - sind noch offen. Die letzten Meinungsumfragen jedenfalls zeigen, dass 57 Prozent der Schotten angesichts dessen lieber beim Status quo bleiben wollen.

Den Traum von der Unabhängigkeit wahr machen oder am Bewährten festhalten? Herz oder Kopf? Im Ringen um Schottlands Zukunft sind dies die zwei konträren Positionen. Man könnte auch sagen: Alex Salmond oder Alistair Darling. Die beiden Politiker verkörpern den Gegensatz von Passion und Sachlichkeit. Am Montag sind die beiden Charaktere in einer denkwürdigen Fernsehdebatte über Schottlands Unabhängigkeit aufeinandergetroffen. In der einen Ecke: Alex Salmond, schottischer Regierungschef und leidenschaftlicher Kämpfer für den Austritt aus dem Königreich. In der anderen Ecke: Alistair Darling, ehemaliger britischer Schatzkanzler, der mit nüchternen Gründen für den Beibehalt der Union mit Großbritannien wirbt. Was ein Austausch von Argumenten werden sollte, geriet schnell zu einem hitzigen Schlagabtausch, wo der eine den andere zu übertönen versuchte. "Alistair", brüllte Salmond einmal, "Sie brauchen wirklich nicht so zu schreien."

Salmond, Chef der "Scottish National Party" (SNP), konnte den Abend für sich entscheiden - zumindest in den Augen jener Schotten, die gleich nach der Debatte in einer Blitzumfrage konsultiert wurden: 71 Prozent hielten Salmond für den Gewinner, nur 29 Prozent meinten, dass Darling die besseren Argumente gehabt habe. Allerdings stützte sich die Umfrage auf nur etwas mehr als 500 Befragte und ist deshalb nicht wirklich repräsentativ. Außerdem bleibt fraglich, ob die Debatte die Entscheidung der Schotten nachhaltig beeinflussen wird, wenn sie in der bevorstehenden Volksbefragung über die Unabhängigkeit abstimmen.

Salmond setzte ganz auf emotionale Themen. Londons rigorose Sozialpolitik habe dazu geführt, dass 100 000 Kinder in die Armut abgleiten würden. Nur ein unabhängiges Schottland könne sicherstellen, dass der Nationale Gesundheitsdienst nicht privatisiert werde. Und das Land brauche keine Massenvernichtungswaffen, sagte Salmond, und versprach, die mit nuklearen Sprengköpfen versehenen U-Boote der "Trident"-Flotte aus schottischen Häfen zu verbannen.

Darling, der als Chef der Kampagne "Better Together" ("Besser zusammen") einen Bund von Unionisten aus allen großen politischen Parteien repräsentiert, kam unter Druck, wenn er, der Labour-Politiker, die Politik der Londoner Tory-Regierung verteidigen musste. Ein ums andere Mal versuchte er, Salmond darauf festzunageln, welche Währung ein unabhängiges Schottland haben werde, nachdem London eine Pfund-Union ausgeschlossen hatte. Doch Salmond zog sich geschickt aus der Affäre: Er wolle am 18. September ein Mandat erreichen, um über eine Währungsunion zu verhandeln, die für beide Seiten Sinn ergibt. Und er deutete an, andernfalls Schottlands Schulden nicht zurückzahlen zu wollen.

Die Unsicherheit vieler Bürger wird natürlich dadurch vergrößert, dass von beiden Lagern gegensätzliche Szenarien für den Fall der Unabhängigkeit gemalt werden. Salmond und seine Anhänger versprechen, dass die Queen Staatsoberhaupt bleibt, das britische Pfund weiterhin Zahlungsmittel ist, dass ein Verbleib in der EU garantiert sei und dass das Land wirtschaftlich autark sein werde.

Das Nein-Lager dagegen malt große Fragezeichen hinter die Währung und argumentiert, dass Schottland sich um einen Beitritt zur EU erst erneut bewerben müsse - Ausgang unklar. Salmond antwortet, dass es im wirtschaftlichen Interesse Großbritanniens liege, an einer Währungsunion festzuhalten. Andernfalls kämen auf die britische Wirtschaft, die ja eng mit der schottischen verflochten sei, Transaktionskosten von umgerechnet 610 Millionen Euro pro Jahr zu. Und was die EU beträfe: Den demokratischen Willen Schottlands nicht zu respektieren, würde "der europäischen Idee von demokratischer Selbstbestimmung und Inklusion widersprechen".

Bei all dem Hin und Her wissen die Schotten nicht, wem sie glauben sollen. Beispiel Nordsee-Öl: Die schottische Regierung rechnet mit künftigen Steuereinnahmen von jährlich gut zehn Milliarden Euro. Das "Office for Budget Responsibility", das in etwa den deutschen Wirtschaftsweisen entspricht, dagegen bezifferte die Einnahmen auf nur etwas mehr als 3,8 Milliarden Euro jährlich.

Beispiel Lebensstandard: Salmond behauptet, dass im Fall der Unabhängigkeit die Schotten um rund 1260 Euro im Jahr bessergestellt seien. Nein, rufen die Unionisten und legen eine Wirtschaftsanalyse vor, die den Schotten vorrechnet, dass ein Verbleib im Königreich ein jährliches Mehreinkommen von rund 1760 Euro ausmachen würde. Außerdem sei fraglich, ob die Renten sicher seien.

Auf der einen Seite eine ausgewachsene Drohkulisse, auf der anderen Seite das Versprechen der Separatisten, dass der nationale Alleingang ein Erfolg werden wird: Herz oder Kopf. Salmond muss darauf vertrauen, dass die Bürger ihm glauben, wenn er sagt: "Wir können eine reichere Nation und eine gerechtere Gesellschaft erschaffen."

Darling dagegen würde es reichen, wenn die Restzweifel in den Köpfen überwiegen.

(RP)
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