Das Phänomen Shitstorm Hass und Häme im Internet

Düsseldorf · Im Netz entlädt sich die angestaute Wut auf die Welt. Shitstorms wandeln sachliche Diskussionen in beleidigende Debatten. Der Schmähkritik können die Betroffenen wenig entgegensetzen.

Der Knigge fürs Internet
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Foto: ddp

Meist beginnt er sanft, der Shitstorm. Ein Sturm ist er anfangs nicht, eher eine leichte Brise. Doch mit einem Mal schlägt die Wetterlage um: Dann braust ein selbst ernannter Kritiker heran und wirft mit Beleidigungen um sich. Gleichgesinnte stimmen mit ein, schreiben sich in Rage; sie zetern, verunglimpfen und meist verletzen sie. Der Begriff Shitstorm beschreibt ein immer präsenteres Phänomen: In Diskussionsforen, sozialen Netzwerken und Kommentarleisten von Nachrichtenportalen häufen sich Beiträge, in denen Internetnutzer ihrer Wut über die Welt, einen Artikel oder einen Autor freien Lauf lassen.

Die Flüchtlingsdebatte liefert derzeit den größten Zündstoff für ein solches Hass-Feuerwerk. Schauspieler Til Schweiger bekam dies vor Kurzem hart zu spüren: Auf seiner Facebook-Seite rief Schweiger seine Anhänger dazu auf, für eine Hamburger Hilfsaktion für Flüchtlinge zu spenden. Statt Lob schlug dem Filmstar allerdings Wut und Verachtung entgegen, rassistische Beleidigungen und Drohungen füllten die Kommentarleisten.

Schweiger schrieb daraufhin: "Oh Mann - ich habs befürchtet!! Ihr seid zum Kotzen! Wirklich! Verpisst Euch von meiner Seite, empathieloses Pack! Mir wird schlecht!!!". Natürlich hätte Schweiger ahnen können, dass danach noch mehr Beleidigungen auf ihn hereinprasseln würden, aber das Beispiel zeigt, dass auch den Betroffenen oftmals nichts anderes einfällt, als auf Hass mit Hass zu reagieren.

Opfer meist machtlos

Denn gegen einen losgetreten Shitstorm ist das Opfer meist machtlos. Schweiger blieb letzten Endes nichts anderes übrig, als die rassistischen und rechtswidrigen Kommentare auf seiner Facebook-Seite zu löschen. Genauso handhaben es die Nachrichtenportale im Land. Meist dauert es dann aber nicht lange, bis jemand "Zensur" schreit. Die Meinungsfreiheit werde eingeschränkt. Dabei sind es gar keine Meinungen, die in den betroffenen Kommentaren geäußert wurden. Es sind Beleidigungen. Und für solche gibt es glücklicherweise keine Freiheit.

Schließlich ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Die Strafbestände, wie sie das Strafgesetzbuch vorschreibt, gelten auch im World Wide Web. Wenn online die Fetzen fliegen, drohen Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe. Bei übler Nachrede sieht das Gesetz sogar eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vor. Nach einer Definition des Bundesverfassungsgerichts ist es das Ziel einer Schmähkritik, die betroffene Person verächtlich zu machen, ohne dass es dabei noch um die Sache selbst geht.

Die Strafverfolgung ist für die Behörden aber meist eine unüberwindbare Hürde. Denn viele Hass-Prediger agieren im Internet anonym. Der Kabarettist Dieter Nuhr schrieb neulich in der "FAZ": Die Anonymität des Internets bedeute einen zivilisatorischen Rückschritt. Nuhr reagierte mit einem Essay auf einen über ihn hereingebrochenen Shitstorm bei Facebook aufgrund eines Witzes über die Griechenland-Krise.

"Zivilisatorischer Rückschritt"

Es ist exemplarisch: In den meisten Fällen entlädt sich ein Shitstorm an bestimmten Aussagen, Beiträgen oder Artikeln. Das war schon in den Anfängen des Internets so, als die ersten E-Mails über die Computer huschten. Die Antwort-Option bot erstmals "schnelle und unbedachte Reaktionen", sagt Dave Crocker, der damals die Standards für elektronische Mails im Arpanet mitentwickelte, einem Vorläufer des heutigen Internets. Das Arpanet diente ab 1968 dazu, mehrere Universitäten in den USA, die gemeinsam für das Verteidigungsministerium forschten, zu vernetzen. Schon in den damaligen Mail-Listen sei die Pöbelei unter den Wissenschaftlern teilweise so weit gegangen, dass die Verantwortlichen überlegten, das Projekt zu beenden.

In den 80er Jahren entwickelten Informatiker das Usenet. Die Software stellte fachliche Diskussionsforen aller Art in reiner Textform zur Verfügung. Auch hier dauerte es nicht lange, bis sich die Teilnehmer in wütenden Texten Beleidigungen an den Kopf warfen - manchmal nur aufgrund eines Rechtschreibfehlers (noch heute ein prominenter Grund, sich zu echauffieren).

Erst in den 90er Jahren wurden Psychologen auf die Pöbeleien im nun von Tim Berners-Lee geschaffenen öffentlichen World Wide Web aufmerksam. Die Forscher führten die Wutreden auf fehlende Gestik zurück. Im Internet gibt es keinen Augenkontakt, kein Lächeln; auch fehlt jedwede Lautstärke. Alles Signale, die ein persönliches Gespräch regulieren. Dies sei der Grund, so die Forscher, warum die Kommentatoren immer wieder nachlegten. Sie fühlten sich nicht verstanden.

"Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters"

Für den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist der Shitstorm Ausdruck der neuen "Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters". In ihm spiegelten sich die großen gesellschaftlichen Fragen. "Wir müssen lernen, den Shitstorm zu lesen, ihn zu dechiffrieren." Tatsächlich ist der Shitstorm per se nichts Schlechtes. Er ist gut, gar förderlich für die Gesellschaft, wenn er auf Unrecht aufmerksam macht, Sexismus bekämpft, Diskriminierung bestraft. Dann ist er auch kein Shitstorm, sondern berechtigte Kritik. Entbehrlich ist er, wenn hinter seinen Schöpfern radikale Vereinigungen stehen, die nur darauf lechzen, mit ihrem wirren Gedankengut Hass auf bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Personen zu schüren. Solche Schmähungen müsse man dabei in Gedanken einfach wegstreichen, rät Pörksen.

Ignorieren - ist das das Rezept? Renommierte Journalisten wie Özlem Gezer ("Der Spiegel") oder Özlem Topçu ("Die Zeit") handhaben es anders: Sie lesen die fiesesten Kommentare zu ihren Artikeln bei öffentlichen Veranstaltungen vor. Meist lacht das Publikum. Es lacht, weil es nicht glauben kann, mit welcher sinnfreien Hass-Prosa Autoren mit Migrationshintergrund wie Gezer und Topçu zu kämpfen haben. Es ist eine Art Galgenhumor: So verletzend kann die Welt ja wohl nicht sein.

(RP)
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