Afrin/Ankara Soldaten weinen nicht

Afrin/Ankara · Der türkische Präsident Erdogan verteidigt seine Offensive gegen die Kurden in Syrien. Traurige Kinder passen ihm da nicht ins Bild.

Er war mehrfach Gast der Regierung in Ankara, als nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs noch Frieden und Versöhnung mit den Kurden die politische Agenda der Türkei bestimmten: Salih Muslim, langjähriger Co-Chef der syrisch-kurdischen "Partei der Demokratischen Union" (PYD), die seit 2011 die syrischen Kurdengebiete kontrolliert. In der Nacht zum Sonntag aber wurde der prominente Kurdenführer in der tschechischen Hauptstadt Prag, wo er eine internationale Nahostkonferenz besuchte, auf Ersuchen der Türkei festgenommen. Seit die Türkei 2015 in der Kurdenpolitik wieder auf Konfrontation geschaltet hat, gilt der einstige Verhandlungspartner in Ankara als "Terrorist".

Die Türkei betrachtet die PYD, deren Co-Vorsitzender Saleh Muslim bis Mitte 2017 war, als Teil der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei, den USA und der EU als Terrororganisation gelistet ist. Die PYD bestreitet diese Verbindung. In einem Interview mit der "New York Times" sagte Muslim kürzlich, seine Partei unterstehe niemandem, sondern treffe ihre eigenen Entscheidungen. "Die Türken benutzen die PKK als Vorwand, um gegen uns vorzugehen. Für die Türken ist der beste Kurde ein toter Kurde." Die PYD und ihr bewaffneter Arm YPG sind in Syrien mit den Vereinigten Staaten verbündet und haben wesentlich dazu beigetragen, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) weitgehend zu besiegen. Doch seit dem 20. Januar führt die Türkei Krieg gegen die Kurdenenklave Afrin mit dem Ziel, die PYD und YPG von dort zu vertreiben.

Erdogan forderte die tschechischen Behörden auf, Muslim an die Türkei auszuliefern. Bei ähnlichen Festnahmen über Interpol in der EU - etwa des türkischstämmigen deutschen Autors Dogan Akhanli vergangenes Jahr in Spanien - waren Auslieferungsersuche der Türkei abgelehnt worden. In tschechischen Medien wird jedoch spekuliert, Prag könnte bereit sein, den Kurdenpolitiker gegen zwei tschechische YPG-Kämpfer auszutauschen, die in der Türkei in Haft sitzen.

Für die USA ist der Fall Muslim wichtig, weil die kurdischen Partner der Amerikaner in Syrien von Washington erwarten, sie gegen die Türken zu schützen. Eine Auslieferung von Muslim an Ankara könnte die Kurden an ihrer Allianz mit Amerika zweifeln lassen - und das in einem Moment, in dem sich die Lage im Norden Syriens verschärft. Die türkische Armee bereitet die Belagerung der Stadt Afrin vor, in der sich viele YPG-Kämpfer verschanzt haben. Anschließend will Erdogan seine Soldaten Richtung Osten in die Stadt Manbidsch schicken, wo neben kurdischen Kämpfern auch amerikanische Soldaten stationiert sind.

Am Wochenende verteidigte Erdogan auf einem Kongress seiner Partei AKP die Offensive im nordsyrischen Afrin. Die Türkei habe das Recht, ihre Grenzen zu schützen, sagte Erdogan in seiner Rede. Bei der Veranstaltung hatte der türkische Präsident ein Mädchen in Soldatenuniform aus dem Publikum auf die Bühne geholt und es gefragt, ob es Märtyrerin werden will. Dem Kind, dem wohl vor Aufregung die Tränen gekommen waren, erklärte Erdogan, dass Soldaten nicht weinten. "Wenn du fällst, werden wir dich mit einer Fahne zudecken, bereit für alles, richtig?"

Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte nach Pariser Angaben in einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen Erdogan, die Entscheidung des UN-Sicherheitsrats für eine Waffenruhe in Syrien gelte auch für den türkischen Feldzug in Afrin. Macron habe Erdogan gegenüber betont, dass die Waffenruhe "überall" in Syrien und damit auch in Afrin Aktiv sei, erklärte das französische Präsidialamt. Die türkische Regierung denkt jedoch nicht daran, Macrons Appell zu folgen. Nach Medienberichten wurden gestern Eliteeinheiten der Armee nach Afrin verlegt. Die Türkei argumentiert, ihr Vormarsch gegen die Kurdenmiliz YPG in Afrin diene der Terrorbekämpfung und falle deshalb nicht unter die Regeln der Feuerpause.

Der UN-Sicherheitsrat hatte am Samstag einstimmig eine 30-tägige Waffenruhe für das Bürgerkriegsland gefordert. Diese wird derzeit jedoch nicht eingehalten. Die heftigen Bombardierungen der Region Ost-Ghuta nahe Damaskus gingen auch gestern weiter. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete, mindestens 22 Zivilisten seien getötet worden. Die lokale Gesundheitsbehörde des belagerten Gebiets und Aktivisten warfen den syrischen Regierungstruppen sogar einen Angriff mit Giftgas vor, bei dem ein Kind ums Leben gekommen sei. Rettungshelfer verbreiteten dramatische Bilder aus Ost-Ghuta.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort