Lynchmorde Späte Reue in Amerikas Süden

La Grange · In Georgia hat sich der Polizeichef einer Kleinstadt für einen 1940 begangenen Lynchmord entschuldigt – einen von vielen Tausend.

In Georgia hat sich der Polizeichef einer Kleinstadt für einen 1940 begangenen Lynchmord entschuldigt — einen von vielen Tausend.

Für Willie Edmondson ist es eine ferne Erinnerung, als läge ein Nebelschleier über dem Ort des Verbrechens. Seine besorgte Großmutter ermahnte ihn immer, sich besonders vorzusehen in dieser Ecke, acht Meilen außerhalb von La Grange im US-Bundesstaat Georgia, wo die Liberty Hill Road einen Stausee streift und durch dichtes Waldgebiet führt.

"Nimm dich in Acht, am besten, du machst einen großen Bogen darum": Die Worte klingen ihm noch in den Ohren. Irgendwo hinter dem Stausee, wusste "Grandma" Minerva, wurde ein schwarzer Teenager tödlich verletzt aus einem Auto gestoßen, nachdem ihm ein Mob weißer Rassisten eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Den Namen des Opfers nannte sie nicht, jedenfalls kann sich Willie Edmondson an keinen Namen erinnern.

Mit der Zeit habe er dann verdrängt, was die Älteren über die Liberty Hill Road erzählten. Es sei ja nicht so gewesen, dass nur dort Gefahr drohte. Nach den strengen Regeln, die Grandma Minerva aufstellte, erinnert sich der 63-Jährige, musste er jedes Mal anrufen, bevor er im Dunkeln von irgendwoher nach Hause fuhr. Traf er nach einer bestimmten Zeit nicht ein, machten sich seine Eltern auf den Weg, um nach ihm zu suchen.

Für den Fall, dass hinter Willie die Sirene eines Polizeiautos aufheulte, was in Amerika meist bedeutet, dass man bei einer Tempokontrolle gestoppt wird, lautete der dringende Rat: langsam weiterfahren, bis Menschen in der Nähe sind, eine Tankstelle, ein Supermarkt, potenzielle Augenzeugen. "Es ist doch ständig etwas passiert", sagt der hochgewachsene Mann, der inzwischen als Ratsherr in der Gemeindeverwaltung von La Grange sitzt. "Du musstest ständig auf der Hut sein, und nicht nur an der Liberty Hill Road."

Mit 76 Jahren Verspätung hat klare Konturen bekommen, wovor Minerva Edmondson ihren Enkel immer warnte. An einem südlich milden Januartag fuhr Louis Dekmar, der Polizeichef der 31.000-Einwohner-Stadt im einstigen Baumwollgürtel Georgias, in die größte afroamerikanische Kirche des Orts, um in aller Form um Verzeihung zu bitten. Er bedauere aufrichtig, welche Rolle die Polizeitruppe von La Grange bei einem Lynchmord gespielt habe, "durch unser Handeln genauso wie durch unser Nichthandeln", sagte Dekmar in der überfüllten Warren Temple Methodist Church: "Es hätte nie passieren dürfen." Es war das erste Mal in Georgia, dass sich ein Ordnungshüter für ein solches Verbrechen entschuldigte.

Wenn Dekmar darüber spricht, spricht er so sachlich und leise, als wäre ihm fast schon peinlich, dass die Leute nun über ihn sagen, er habe Geschichte geschrieben. Er scheint keiner zu sein, der gern im Rampenlicht steht. Statt Uniform trägt er Zivil, was er damit begründet, dass er als früherer Kriminalkommissar gern festhalte an alten Gewohnheiten. Relevant ist wohl noch, dass Louis M. Dekmar, der Sohn ungarischer Einwanderer, nicht aus dem tiefen Süden der USA stammt, sondern aus dem Vorortgürtel New Yorks, von wo seine Familie in den Pazifikstaat Oregon zog.

Den Netzwerken der "Good Old Boys", zu denen alte Südstaatler ihre Seilschaften verklären, hat er nie angehört. "Nun ja, ich schleppe nicht so viel Gepäck mit mir herum. Vielleicht fiel es mir leichter als Leuten, die immer nur hier gelebt haben." Für einen alteingesessenen Weißen aus La Grange, glaubt Dekmar, wäre es schwerer gewesen, das Kapitel Austin Callaway aufzuarbeiten. Er hätte wohl Rücksicht nehmen müssen, auf Familienbande, auf die Good Old Boys.

Austin Callaway, so hieß der Teenager, der an der Liberty Hill Road verblutete. Am 8. September 1940 starb er, 16, 17 oder 18 Jahre alt, so genau wusste es keiner. Tags zuvor war er festgenommen worden, weil er versucht haben soll, eine weiße Frau anzugreifen. Abends fuhren sechs bewaffnete Männer zum Rathaus, in dessen Keller das Polizeigefängnis untergebracht war. Die Gesichter unter Kapuzen getarnt, verschafften sie sich Zutritt zu Callaways Zelle und zerrten den Jungen in ein Auto. Die zuständigen Beamten, sagt Dekmar, hätten es geschehen lassen und damit Schuld auf sich geladen. Und wer ihn frage, warum lässt du die Leichen nicht im Keller, warum rührst du an der Sache, dem könne er nur erwidern, dass es eben nicht nur um die Vergangenheit gehe. "Mit der Vergangenheit ist es wie mit einer Brille, durch die wir die Gegenwart betrachten." Das Misstrauen, mit dem schwarze Bewohner La Granges den Cops noch immer begegnen, habe auch mit dem Mord an Austin Callaway zu tun: "Weiße Polizisten wurden als Komplizen einer Mordbande gesehen, das ist die Brille, von der ich rede. Ich kann das entweder ignorieren oder darauf eingehen, es ist meine Entscheidung."

In afroamerikanischen Familien, das weiß Willie Edmondson, wurde von Generation zu Generation weitergegeben, was sich 1940 zugetragen hatte, wenn auch mit wachsendem zeitlichen Abstand immer verschwommener. In den offiziellen Annalen der Stadt, das weiß Louis Dekmar, fehlt dagegen jeder Hinweis auf das Verbrechen. In Archiven suchte er vergebens nach einer Akte, einem Protokoll, dem Bericht eines Ermittlers. Das Einzige, was er fand, war eine dürre Meldung, erschienen auf der sechsten Seite der Lokalzeitung. "Neger erliegt Schussverletzungen", zitiert Dekmar die Überschrift.

Die Aufarbeitung der Geschichte, begonnen hat sie vor drei Jahren damit, dass zwei Frauen, beide betagt, beide schwarz, auf Dekmars Revier vor vergilbten Fotos standen und die eine zur anderen sagte: "Der dort hat unsere Leute auf dem Gewissen." Eine Polizistin, die es zufällig hörte, erzählte es ihrem Chef, der sich zwar keinen Reim darauf machen konnte, aber instinktiv begriff, dass er der Sache auf den Grund gehen musste. Bald hatte er auch den Bürgermeister auf seiner Seite, den 43-jährigen Juristen Jim Thornton, der von sich sagt, dass er ein "Southern White Boy" sei, ein weißer Junge aus dem Süden, was ein bisschen nach Seilschaften klingt. Nach und nach weitete sich die Recherche zu etwas aus, was Thornton eine überfällige Nacherzählung nennt. Auf die Spur der Täter führte sie nicht, aber schwarze Pastoren erzählten von den Seelenqualen ihrer Gemeinden, und das weiße La Grange hörte Geschichten, von denen Jüngere wie Thornton nicht die leiseste Ahnung hatten.

Bryan Stevenson steht vor einem vier Meter hohen Regal voller Einweckgläser. Nur dass die Gläser kein Kompott enthalten, sondern Erde, rote, schwarze, sandgelbe Erde. Der Rechtsanwalt, ausgebildet in Harvard, leitet die Equal Justice Initiative (EJI), eine in Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, angesiedelte Organisation von Juristen. Die Erde in den Gläsern ließ er überall dort einsammeln, wo ein Mensch durch Lynchjustiz ums Leben kam. Gut sechs Jahre hat die EJI bislang damit verbracht, Lynchmorde zu dokumentieren, insgesamt über 4000, begangen in zwölf Bundesstaaten.

Als die Schreckensserie 1877 begann, ging es dem alten Süden nach Stevensons Worten darum, die Sklaverei, die mit dem Ende des Bürgerkriegs abgeschafft war, mit anderen Mitteln fortzusetzen, mit den Mitteln rassistischen Terrors. "Wobei die Terroristen brave Bürger waren, Banker, Lehrer, Ärzte." Wo immer es passierte, findet er, sollten die lokalen Polizeichefs dem Beispiel Dekmars folgen und sich dafür entschuldigen, dass ihre Vorgänger, dem Namen nach die Garanten von Recht und Ordnung, entweder mitgewirkt oder weggeschaut haben.

Der Anfang einer langen Reise, so sieht es Willie Edmondson. "Es ist nicht so, dass der Albtraum über Nacht aus unseren Köpfen verschwindet. Dazu war er zu heftig", sagt der Ratsherr. Doch immerhin habe man angefangen, Wunden zu heilen, das sei schon viel. Seit der dritten Märzwoche erinnert auch eine Gedenktafel, angebracht am alten Gefängnis, an Austin Callaway.

(RP)
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