SPD-Politikerin Natascha Kohnen "Ich habe nichts gegen Experimente"

Berlin · Die designierte SPD-Vizechefin und bayerische Spitzenkandidatin Natascha Kohnen spricht im Interview mit unserer Redaktion über einen höheren Mindestlohn und die Vorzüge einer Minderheitsregierung.

 Natascha Kohnen (Archiv).

Natascha Kohnen (Archiv).

Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Frau Kohnen, welches Signal soll vom SPD-Parteitag für die Regierungsbildung ausgehen?

Kohnen Ein inhaltliches Signal. Die Sozialdemokratie muss jetzt sagen, welche Inhalte für sie wesentlich sind. Ob es zu einer Regierungsbildung mit SPD-Beteiligung kommt, ist noch völlig offen.

Auf welchen Feldern müssen Sie Punkte setzen?

Kohnen Eines der aktuell größten Probleme für die Menschen ist es, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Das müssen wir lösen. In vielen Metropolregionen wie in München haben die Leute schon resigniert. Wir müssen nicht nur die Mietpreisbremse verschärfen, wir brauchen auch eine Bodenpreisbremse. Am besten bundesweit.

Welche Themen sind ähnlich brisant wie das Wohnen?

Kohnen Wir brauchen dringend eine Auflösung der Zwei-Klassen-Medizin durch eine Bürgerversicherung. Das Thema Europa, die Stabilisierung von Finanzmärkten, das Austrocknen von Steueroasen sowie der Wandel der Arbeitswelt sind ebenfalls zentral. Und wir brauchen einen deutlich höheren Mindestlohn. Die bereits von uns genannten zwölf Euro können ein erster Ansatz sein. Aber selbst ein solcher Lohn reicht etwa in München oder Hamburg längst nicht aus.

Stehen im Leitantrag für den Parteitag schon die roten Linien für die Gespräche mit der Union?

Kohnen Das sind die Leitlinien, über die wir reden müssen. Mit roten Linien sollten alle Parteien nach den geplatzten Sondierungen aufpassen. Wir müssen Schritt für Schritt abtasten, bei welchen Themen wir zusammenkommen. Dann entscheiden wir, ob wir Gespräche für eine Regierungsbildung aufnehmen. Am Ende wird auf jeden Fall ein Mitglieder-Votum stehen, ob wir in eine Regierung gehen.

Das Stimmungsbild in der SPD zu einer großen Koalition ist sehr heterogen. Erwarten Sie entsprechend kontroverse Debatten beim Parteitag?

Kohnen Die Debatten werden sicherlich kontrovers. Es ist gut, dass wir das offen miteinander diskutieren. Wenn der Parteitag der Führung ein Mandat für Gespräche gibt, dann müssen wir unsere Punkte mit großer Härte gegen die Union verhandeln. Nur wenn sich da inhaltlich wirklich viel bewegt bei der Union, kommt eine Beteiligung der SPD in Frage - in welcher Form auch immer.

Die Inhalte waren in der vergangenen großen Koalition nicht Ihr Problem. Sie haben Mindestlohn und Rente mit 63 durchgesetzt . . .

Kohnen Es wird sehr darauf ankommen, wie und mit wem wir in eine Regierung gehen. Wichtig ist auch, dass der Erneuerungsprozess der Sozialdemokratie stattfindet - auch wenn wir eine Regierung stützen oder uns beteiligen. Wir dürfen keine Kompromisse eingehen, die dazu führen, dass die Partei wieder in die Knie geht

Was meinen Sie konkret?

Kohnen Etwa die Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung. Das haben wir trotz anfänglicher Ablehnung am Ende doch mitgetragen. So verliert man Vertrauen des Wählers.

Wie groß ist in der SPD der Respekt vor der Kanzlerin?

Kohnen Ich begegne Menschen immer mit Respekt. Es geht aber nicht, dass die Kanzlerin Arroganz an den Tag legt und sagt, die SPD muss sich jetzt unterordnen und darf nicht so viele Forderungen stellen. So läuft das mit Sicherheit nicht. Wenn dann muss man sich auf Augenhöhe begegnen.

Hat Merkel noch genug Autorität, um erneut vier Jahre eine Regierung zu führen?

Kohnen Bei dem Versuch, eine Jamaika-Regierung zu bilden, ist Merkel gescheitert. Es wird sich nun zeigen, ob ihr Wort in den eigenen Reihen noch genug Gewicht hat, dass sie eine Regierung bilden kann. Angeschlagen ist sie auf jeden Fall.

Welche Lehren ziehen Sie aus der letzten großen Koalition?

Kohnen Es muss in Zukunft einen ehrlicheren Umgang miteinander geben. Die SPD hatte am Ende der Regierungszeit das Vertrauen in die Union verloren. Ein Beispiel ist das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, das im Koalitionsvertrag stand, das die Union aber nicht umsetzen wollte.

Ein Koalitionsbruch?

Kohnen Wenn man ehrlich ist, hätten wir zum Ende der Regierungszeit aus mehreren guten Gründen die große Koalition aufkündigen müssen. Hinzu kommt das Abstimmungsverhalten von Landwirtschaftsminister Schmidt in der Glyphosat-Frage. Das war ein schlimmer Vertrauensbruch. Das war eine Blutgrätsche. Wir dürfen die große Koalition jetzt nicht schönfärben.

Was halten Sie alternativ von einer Minderheitsregierung?

Kohnen Ich habe nichts gegen Experimente. Es wäre ja auch aus der Oppositionsrolle heraus möglich, mit einer Minderheitsregierung verschiedene politische Projekte zu vereinbaren und im eigenen Sinne durchzusetzen. Das kennen wir noch nicht in der Bundesrepublik. Seit 70 Jahren machen wir Regierungsbildung nach Schema F. Aber ich finde, wir müssen als Land insgesamt mutiger werden. Dafür ist es die richtige Zeit.

Martin Schulz hat nach der Wahl ausgeschlossen, persönlich in ein Kabinett unter Angela Merkel einzutreten. Muss er sein Wort halten?

Kohnen Nochmal: Wir gehen jetzt Schritt für Schritt vor. Diese Frage können Sie mir ja noch einmal stellen, sollten wir irgendwann tatsächlich vor einer Fortsetzung der großen Koalition stehen.

Abgemacht. Ist er denn der Richtige für die Erneuerung der Partei?

Kohnen Wir haben Martin Schulz Anfang des Jahres mit 100 Prozent ins Amt gewählt. Das wird er jetzt vielleicht nicht mehr schaffen, unsere Unterstützung hat er aber.

Das Gespräch führten Jan Drebes und Eva Quadbeck.

(qua/jd)
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