Analyse Städte brauchen Pflegenetzwerk

Berlin · Wer im Fall der Pflegebedürftigkeit nach den eigenen Wünschen leben möchte, muss vorsorgen. Hier sind die Kommunen gefragt: Sie müssen Netzwerke schaffen, damit viele Menschen aufgefangen werden können.

Analyse: Städte brauchen Pflegenetzwerk
Foto: dpa

Schon Cicero war klar, dass das Altern ein Tabu-Thema ist. Als Lebensweisheit für die Nachwelt hinterließ er: "Jeder will alt werden, aber keiner will alt sein." Wenn man über diesen Ausspruch einen Moment nachdenkt, versteht man, warum Menschen von ihrer Pflegebedürftigkeit oft überraschend getroffen werden. Möglicherweise sei es die Psychologie des Alterns, die keine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema zulasse, heißt es im AOK-Pflege-Report 2015.

Die Umfrage unter der Generation 50+ liefert einen Beleg dafür, dass das Risiko der eigenen Pflegebedürftigkeit zwar richtig eingeschätzt wird, aber keine Konsequenzen daraus folgen. So meint nur jeder Vierte, dass sein persönliches Risiko, zum Pflegefall zu werden, gering sei. Über Hilfen bei Pflegebedürftigkeit ist aber nur jeder Vierte informiert. Fakt ist aber: In etwa fünf Jahren wird die Zahl der Pflegebedürftigen die Grenze von drei Millionen überschreiten. 2050 werden in Deutschland nach Vorausberechnungen 4,6 Millionen Pflegebedürftige leben.

Doch um im Fall der Pflegebedürftigkeit nach den eigenen Wünschen leben zu können, bedarf es der Vorsorge. Insbesondere wer eine Alternative zum Heim oder zum klassischen Pflegedienst sucht, muss sich kümmern. Betreutes Wohnen, Mehrgenerationenhäuser und Alten-WGs bedürfen der Anmeldung, der Planung und der Hilfe Gleichgesinnter. Die alternativen Wohnformen für Pflegebedürftige werden nur eine Chance auf Durchsetzung haben, wenn sie frühzeitig geplant werden und wenn es mehr kommunal organisierte Angebote gibt.

Der Schlüssel für eine gut funktionierende Pflegelandschaft der Zukunft liegt ohnehin bei den Kommunen. Nur wenn eine bessere Vernetzung vor Ort gelingt, wird man auch die wachsende Zahl an Menschen auffangen können, die keine Angehörigen zur Unterstützung haben. Wobei die Familien für all diejenigen, die nahe Angehörige haben, nach Prognose der Wissenschaftler die wichtigsten Ansprechpartner für die Pflegebedürftigen bleiben. "Ich sehe nicht, dass den Familien bei der Pflege der Sprit ausgeht", sagt Adelheid Kuhlmey, Medizinsoziologin und Mitautorin des AOK-Pflege-Reports. Die Motivation, die Angehörigen zu versorgen, bleibe hoch. "Auch der Anspruch der Pflegebedürftigen an die Familie bleibt hoch."

Die Kommunen haben erkannt, dass ihnen eine wichtige Rolle bei der Pflege der Zukunft zukommt. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, Stephan Articus, begrüßt die Initiative der Bundesregierung, die Pflegenetze vor Ort gesetzlich zu stärken. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) kündigte in dieser Woche an, ein Gesetz zur Rolle der Kommunen in der Pflege schaffen zu wollen. "Ziel ist es, den von Pflegebedürftigkeit betroffenen Menschen und ihren Angehörigen eine umfassende Beratung aus einer Hand zu ermöglichen", sagt Articus. Bislang seien die Versorgungsstrukturen der Pflege durch die Kommunen nach jetziger Rechtslage kaum zu beeinflussen. Bis die Kommunen bundesweit die Sache tatsächlich in die Hand nehmen können, wird es aber noch einige Jahre dauern. In den kommenden fünf Jahren sollen 60 Kommunen die Netzwerk-Arbeit in Sachen Pflege erst einmal erproben.

Im besten Fall müssen sich die Betroffenen und ihre Angehörigen künftig nur an eine Stelle wenden, die sie über die verschiedenen gesetzlichen Pflegeleistungen aufklärt, ihnen bei den Anträgen und der Ermittlung der Pflegestufe hilft. Zugleich muss diese Anlaufstelle über eine große Kartei von Heimen und ambulanten Pflegediensten verfügen sowie deren Vor- und Nachteile kennen. Die professionellen Berater vor Ort sollten zudem Alltagshilfen für den Haushalt, Begleitdienste und ehrenamtliche Helfer vermitteln können. Wer keine Angehörigen oder gute Freunde hat, muss zudem mit Kontroll-Besuchen bedacht werden. Angesichts des Dschungels an Ansprüchen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ist das eine enorme Herausforderung.

Der Alltag von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen erweist sich oftmals als noch schwerer als nötig, weil viele Angebote und auch Möglichkeiten, finanzielle Zuschüsse zu erhalten, nicht bekannt sind. Ein paar Beispiele: Es gibt Zuschüsse zum altengerechten Umbau für Wohnungen, Betreuungszuschläge für Demenzkranke und Hilfen für Angehörige, die eine Auszeit von der Betreuung ihrer Verwandten benötigen.

Neben den neuen Wohnformen wird die Versorgung über ambulante Dienste weiter zunehmen. "Die Inanspruchnahme ambulanter Dienste und damit die Nachfrage nach professioneller Hilfe steigt schon heute immer mehr an", sagte Kuhlmey. Sie sieht aber auch Reformbedarf bei den Diensten, die mit dem Start der Pflegeversicherung vor 20 Jahren entstanden sind. Die Minutenpflege von damals, füttern, waschen, Zähne putzen, gilt heute nicht mehr als zeitgemäß. Die ambulanten Dienste würden sich noch stärker auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen einstellen müssen, meint Kuhlmey. "Die Pflegedienste werden ihre Angebote stärker differenzieren müssen und spontaner und flexibler auf die Bedürfnisse reagieren", sagt die Wissenschaftlerin. Es bedürfe auch eines besseren Zusammenspiels zwischen den Diensten, Ärzten, kommunalen Angeboten und Dienstleistungen des Alltags wie Einkaufen.

An eben diesem Punkt sollen die Kommunen ansetzen. Der Deutsche Städtetag befürwortet ein umfassendes Konzept: "Ziel muss es perspektivisch sein, ganze Quartiere so auszugestalten, dass die notwendige Unterstützung gewährleistet wird, die ein Mensch benötigt, um so lange wie möglich im eigenen Zuhause ein selbstbestimmtes Leben zu führen", sagt Articus.

(qua)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort