Analyse Wenn Politiker aus der Rolle fallen

Düsseldorf · Stefan Effenberg hat es getan, Peer Steinbrück hat es getan - und jetzt auch Vizekanzler Sigmar Gabriel: Sie alle haben den Mittelfinger gezeigt. Warum das im Fall Gabriel gut war und Mittelfinger nicht gleich Mittelfinger ist.

Dieses Bild werde er nie wieder los, liest Peer Steinbrück später über sich in sämtlichen Medien. Bevor er seinen Mittelfinger für die Kamera in Position brachte, hatte er Zeit, über diese Geste nachzudenken. In seinem Ohne-Worte-Interview 2013 fragte das "SZ-Magazin" den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten: "Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi - um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?" Seine Antwort: genervter Blick, leicht geöffneter Mund, verschränkte Arme, und: der Stinkefinger. Schwarz auf Weiß. Auf dem Titelblatt. Eine Woche vor der Bundestagswahl.

Knapp drei Jahre später: Wieder ein Sozialdemokrat, wieder ein (möglicher) Kanzlerkandidat, wieder der Stinkefinger. Doch während die angeblich ironisch gemeinte Geste für Steinbrück zum ernsten Imageproblem wurde, hat Parteikollege Sigmar Gabriel die meisten Menschen auf seiner Seite. Das liegt nicht unbedingt am Absender, sondern vielmehr am Adressaten: Als der Vizekanzler am vergangenen Wochenende im niedersächsischen Salzgitter auf Wahlkampftour ist, muss er an Demonstranten vorbei. Sie sind vermummt, tragen schwarz-rot-goldene Masken und Pappschilder mit "Hau ab" und "Volksverräter". Gabriel lächelt müde, winkt ab, zieht die rechte Hand aus der Hosentasche, zeigt den ausgestreckten Mittelfinger und dreht sich weg.

Wer das Video genau ansieht, das zunächst von den "Jungen Nationalen" (einer jungen Gruppe der NPD) und dann gestern von der "Antifa Kampfausbildung e.V." im Internet verbreitet wurde, hört den Satz, der Gabriel womöglich zu einer derart emotionalen Affekthandlung verleitet hat: "Mensch, dein Vater hat sein Land geliebt. Und was tust du? Du zerstörst es", grölt einer der Demonstranten. Gabriels Vater war Nationalsozialist bis zum letzten Atemzug. Das betont der Vizekanzler oft. Auch Holocaust-Opfer gibt es in seiner Familie. Sein Vater wiederum habe geglaubt, Auschwitz sei eine Erfindung der Amerikaner, sagte Gabriel jüngst bei seinem Besuch in jener Gedenkstätte. Und: "Eine der Lehren aus Auschwitz ist, dass man sich niemals sicher sein kann, dass die Dämonen im Menschen gebannt sind." Die vermummten NPDler hatten etwas Dämonisches. Und bei diesen jungen Menschen in Salzgitter, nur 30 Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt Goslar, die ihn auf eine so persönliche Art beleidigten, wollte oder konnte es Gabriel in dem Moment eben nicht bei einem müden Lächeln belassen. Es musste mehr sein. Ein sauber gestreckter Stinkefinger. Und das ist in diesem Fall gut so.

Dass die gleiche Geste bei Peer Steinbrück eher schmutzig endete, lag an seiner Inszenierung. Man kann ihm dafür mangelndes Einschätzungsvermögen vorwerfen, vielleicht auch Dummheit. Vor allem aber fehlende Authentizität. Ein Foto ist ein Kunstprodukt, es entsteht geplant, ohne Affekt, wird am Ende zum Druck persönlich freigegeben. Welche Emotionen Steinbrück bei der Geste hatte, weiß man nicht.

Doch er war nicht der einzige Politiker mit fragwürdigem Verhalten. Auch Altbundeskanzler Helmut Kohl verlor 1991 bei einem Auftritt in Halle in Sachsen-Anhalt kurzzeitig die Contenance, als Demonstranten ihn mit Eiern und Tomaten bewarfen. Als er auf sie zustürmte, konnten ihn die Sicherheitskräfte gerade noch zurückhalten. Ein prügelnder Kanzler - das hätte Kohls Ruf sicher geschadet. Bei Kurt Beck war das der Fall: Weil ein Bürger während eines Interviews 2012 immer wieder dazwischenrief, fauchte der Ex-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz: "Können Sie mal das Maul halten, wenn ich ein Interview mache? Einfach mal das Maul halten?" Er sei nur ehrlich, konterte der Kritiker, woraufhin Beck genervt sagte: "Sie sind nicht ehrlich, Sie sind dumm." Dumm war eher, sich als Ministerpräsident nicht im Griff zu haben.

Auch im Sport ist der Stinkefinger häufiges Wut-Ventil. Fußballer Stefan Effenberg wurde dafür einst bei der WM 1994 vom Team ausgeschlossen. Er war sauer, weil er von Fans angepöbelt wurde, sein Verhalten also nicht grundlos - aber auch nicht gerechtfertigt oder gar politisch. Gabriels Geste hingegen hat eine nachhaltige Botschaft, er ist auch durch seine klaren Worte in der Asyldebatte zum Feindbild von Rechtsextremen geworden. Er besuchte 2015 die Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau, wo es zu Ausschreitungen gegen Asylbewerber gekommen war. Gabriel nannte die Verantwortlichen "Pack" - und bekam daraufhin massenhaft rassistische Hassmails.

Dass Mittelfinger nicht gleich Mittelfinger ist, sagt auch der Kulturanthropologe Reinhard Krüger von der Universität Stuttgart: "Es ist ein deutlicher Unterschied, ob sich Heavy-Metal-Fans mit einem freundlich ausgestreckten Mittelfinger grüßen, Popstars sich als nicht normgerecht in Szene setzen oder, wie es oft im Sport geschieht, Aggressionen, Kritik und Verachtung damit ausgedrückt werden sollen." Krüger hat ein ganzes Buch zur "kleinen Geschichte einer wirkungsvollen Geste" verfasst. Ursprünglich kommt der "digitus impudicus", der "unzüchtige Finger", aus der Antike - als Phallussymbol eines erigierten Penis, die Griechen und Römer bildeten mit Zeige- und Ringfinger gewissermaßen die Hoden. Der berüchtigte römische Kaiser Caligula demütigte seine Untertanen, indem er sie nicht seine Hand, sondern seinen Mittelfinger küssen ließ.

In asiatischen Ländern war der obszöne Fingerzeig lange unbekannt, mittlerweile ist die Geste interkulturell verständlich und hat, so Krüger, "Akzeptanz gefunden im Zuge der allgemeinen Erhöhung des Aggressionspotenzials in unseren Gesellschaften". Und ein Stinkefinger gegen Rechts ist besser als jeder gestreckte rechte Arm eines Nazis.

(RP)
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