Fukushima Surfer-Paradies Fukushima

Fukushima · Auch sechseinhalb Jahre nach Japans Atomkatastrophe ist Fukushima als verstrahltes Gebiet verschrien. Trotzdem stürzen sich unweit der Kraftwerksruine die Surfer ins Meer. Lokalpatriotismus oder Wahnsinn?

"Meine Freunde sagen, ich bin verrückt, dass ich immer wieder hierherkomme." Clinton Taylor ist kaum anzusehen, wie sehr er sich das zu Herzen nimmt. Konzentriert blickt er nach vorne durch die Windschutzscheibe seines Kombis. Auf der linken Seite liegt ein verrostetes Schiffswrack, schräg vor ihm ein Kran über einer Baustelle. Taylor, der aus der Surfnation Neuseeland kommt und schon länger in der Nähe von Tokio wohnt, streicht sich über seinen kahlrasierten Kopf und grinst. "Heute soll's gute Wellen geben." Will wohl heißen: Mir doch egal, was die anderen denken.

"Hier sieht's gut aus", flüstert der 44-Jährige zehn Minuten später und stellt den Motor ab. Ein kleiner Sandstrich in der Gemeinde Hirono, vorne ein Kraftwerk, hinten ein Geigerzähler, der die Strahlenmessung anzeigt. Dazwischen die Wellen, für die Clinton Taylor jetzt sein Surfbrett mit Wachs einreibt. Auf dem Wasser gleiten schon ein paar Typen im Neoprenanzug. Auf den Treppenstufen, die unten im Sand verschwinden, machen andere eine Pause. Gut zehn Surfer sind es an diesem Morgen. "Fukushima ist ein Paradies für Surfer", sagt Clinton Taylor mit zugekniffenen Augen. Die Sonne strahlt. "Auch wenn man's nicht glauben mag."

Dass es vor der Küste von Fukushima hohe Wellen geben kann, weiß die Welt seit sechseinhalb Jahren. Ein bis zu 30 Meter hoher Tsunami verschluckte am 11. März 2011 ganze Landstriche, fast 20.000 Menschen starben, 150.000 verloren ihr Zuhause. In drei Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi schmolzen die Kerne, wegen der ausgetretenen radioaktiven Strahlung wurden in den Wochen danach alle Bewohner im Umkreis von 30 Kilometern evakuiert. Seit dieser Katastrophe, der größten in Japans jüngerer Vergangenheit, ist Fukushima berühmt. Nur leider, wie die Leute hier am Strand finden, aus den falschen Gründen.

Clinton Taylor wusste früher selbst nicht, dass Fukushima auch dann hohe Wellen hat, wenn nicht gerade ein Erdbeben für einen Tsunami sorgt. Als Surfer war er schon überall, auch in seiner Wahlheimat Japan kannte er sich gut aus. Doch: "Vor Fukushima hatte ich zuerst Angst. Ich hatte diese Bilder von Tschernobyl vor Augen." Dann nahm ihn ein Freund mit an die Küste. Als Taylor die hohen, sauberen, spät brechenden Wellen sah, war ihm klar, dass er wiederkommen musste. Bei so traumhaften Bedingungen sei sogar verkraftbar, dass es von diesen Stränden nur ein paar Kilometer bis zum havarierten Atomkraftwerk sind. An klaren Tagen kann man die Strahlenruine am Horizont sehen. Das Gute im Vergleich zu den besten Spots in Surfdestinationen wie Portugal, Spanien oder Bali sei aber, sagt Taylor mit dem Brett unterm Arm auf dem Weg ins Wasser: "Hier ist es Weltklasse und trotzdem ziemlich menschenleer."

Viele japanische Surfer haben Fukushima den Rücken gekehrt. So ganz verwunderlich ist es nicht. Zeitungen berichten, wie Kinder aus Fukushima, die nach den Evakuierungen heute anderswo im Land zur Schule gehen, als "Verstrahlte" gehänselt werden. Der Kraftwerksbetreiber Tepco hat mit seinen wiederholten Verharmlosungen das Vertrauen der Menschen verspielt. Was die meisten Surfer endgültig verschreckt hat: Täglich leitet der Stromkonzern 300 Tonnen kontaminierte Flüssigkeit, die zum Kühlen der geschmolzenen Reaktoren verwendet werden, in den Ozean.

Und hier, wo andere nicht mal die Luft atmen wollen, soll man Wellen reiten, auf dem Bauch liegend paddeln, Wasser schlucken? Klingt verrückt. Warum tut man sich das an? Schwer atmend trägt ein kurzgewachsener, junger Mann sein Brett zurück an die Treppenstufen. Er stellt sich als Kentaro Yoshida vor, hier in Hirono arbeitet er als Manager eines Hotels, das derzeit vor allem Arbeiter der Kraftwerksruine beherbergt. Wann immer sein Job Zeit für eine Pause erlaubt, sagt er, fahre er zum Strand. Ob er das, was er hier tue, für gefährlich hält? "Darüber kann ich nichts sagen. Ich bin hier aufgewachsen", erklärt Kentaro Yoshida. "Das Meer war immer mein Freund. Ich will ihm treu bleiben."

Kazuaki Sugimoto, auch ein Wellenreiter, ist Elektroinstallateur und zog aus der südlichen Präfektur Ehime her, um im Kraftwerk zu helfen. "Wenn meine Freunde daheim hören, dass ich hier nicht nur arbeite, sondern auch noch surfen gehe, sorgen sie sich um meine Gesundheit." Warum tut er das dann? "Nach Feierabend treffen wir uns alle am Strand", meint Kazuaki Sugimoto, "hier in Hirono gibt es ja sonst nicht viel zu unternehmen."

Ungefähr 250 Kilometer weiter südlich, in Inage, einem Vorort von Tokio, schreibt Makoto Akashi Kommazahlen an das Whiteboard in seinem Büro. Untereinander stehen jetzt die Werte 0,05, 0,1 und 0,15. Daneben schreibt er die Namen dreier Städte: Tokio, London, Hirono. "Die Strahlungswerte unterscheiden sich eigentlich nicht besonders", sagt der Mann mit schütterem Haar und schmaler Brille, "ob Sie nach Hirono in Fukushima fahren oder nach London." Akashi Makoto ist leitender Wissenschaftler am Nationalen Institut für Strahlenforschung, als Experte berät er auch die Vereinten Nationen in Wien und die japanische Regierung. Zu den Fortschritten bei den Dekontaminierungsarbeiten im Katastrophengebiet sagt er: "Wir sind jetzt bei 40 oder 45 Prozent. Bis zur völligen Erholung der ganzen Region braucht es noch etwa drei Jahrzehnte." Und: "Wir begleiten die Entwicklung von sieben Arbeitern, die im Kraftwerk beschäftigt sind. Wir schätzen, dass einige von ihnen bald Krebs entwickeln könnten."

Makoto Akashi betont aber auch, dass bei Weitem nicht ganz Fukushima unbewohnbar geworden ist. Und die Strände, die seien sogar benutzbar. "Es ist natürlich grundsätzlich besser, wenn man kein mit Cäsium belastetes Wasser schluckt", sagt Akashi. "Aber bei diesen Mengen erwarten wir keine Auswirkungen auf die Gesundheit. Das radioaktive Wasser, das ins Meer geleitet wird, vermischt sich, die Konzentration wird dadurch sehr gering." Da sei die Strahlung, die von der Sonne ausgehe, erheblich riskanter.

Ein Befund, dem man angesichts der Schreckensbilder, die in den letzten Jahren Schlagzeilen machten, zuerst kaum glauben mag. Immerhin ist in Fukushima die Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs bei Kindern seit der Katastrophe deutlich gestiegen. Verseuchter Fisch wurde noch weit entfernt von der Küste gefunden. Aber sogar Greenpeace scheint sich mit dem staatsfinanzierten Forscher Makoto Akashi hierin einig zu sein. Die gesundheitliche Gefahr hänge davon ab, wo und wie lange man sich aufhalte.

In weiten Teilen sind die betroffenen Gebiete in Fukushima längst besser als ihr Ruf. Dass auch viele Japaner dies nicht wahrhaben wollen, hilft bei der Erholung der Region nicht gerade. Im April ergab eine Umfrage unter Evakuierten, dass 80 Prozent nicht wieder zurückkehren wollen. "Für die Wahrheit interessiert sich niemand", klagt Kentaro Yoshida, der Lokalpatriot. "Man muss nur drüben beim Geigerzähler nachsehen, da steht sie gemessen." Die Tafel zeigt 0,164 Mikrosievert an. Das entspricht ungefähr dem Wert, den Makoto Akashi auf seine Tafel schrieb und von dem auch er versicherte, dass so eine Strahlung nicht zu hoch sei. Der Strand von Hirono ist auch kein Evakuierungsgebiet mehr. "Mich macht es traurig", sagt Kentaro zu Clinton, "dass die Leute nicht mehr kommen wollen." So sind die Surfer hier auch auf einer Mission. Wie sie auf den Wellen reiten, mit der bekanntesten Kraftwerksruine der Welt im Rücken, wollen sie zeigen, dass die Region nicht verloren ist.

(RP)
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