Analyse zum Streit um G 8 oder G 9 Der riskante Kurs von Schulministerin Sylvia Löhrmann

Düsseldorf · Der Konsens in der Schulpolitik ist rissig geworden. Das gilt für die Inklusion, vor allem aber fürs "Turbo-Abi". Im heftigen Streit um G 8 oder G 9 arbeitet die Zeit gegen Sylvia Löhrmann. Ihr bisheriger Stil führt in die Sackgasse.

 Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann.

Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann.

Foto: dpa, fg htf

Viel zu reden und dabei möglichst wenig zu sagen gehört zu den schwierigsten und zugleich beim Publikum unbeliebtesten Disziplinen des Politikers. Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann hatte neulich Gelegenheit, sich in Nebulosität zu üben.

Gefragt war Krisenkommunikation, die keinem wehtut; Anlass war die soeben beendete Tagung des von Löhrmann einberufenen runden Tisches zum Abitur nach acht Jahren (G 8) in NRW. Das "Turbo-Abi" ist neben der Inklusion derzeit die größte Baustelle der Schulpolitik in NRW, und es birgt für die grüne Ministerin das größte Risiko.

Denn der Frust über die schlechte Umsetzung des G 8 und über die Belastung der Schüler ist so groß, dass er Löhrmanns ganzen Politikstil infrage stellt.

Dass die Ministerin keine Anhängerin eines Wechsels zurück zum Abi nach neun Jahren (G 9) ist, war sattsam bekannt. Trotzdem wand sich Löhrmann an jenem Abend in kurioser Hartnäckigkeit um Meinungsäußerungen herum. Ihr Fazit war in etwa: Gut, dass wir reden; wir reden weiter; bloß kein Basta; um mich persönlich geht es gar nicht.

Abgesehen davon, dass es am Ende sehr wohl um die Ministerin geht, illustrieren die Episode und die Debatte der vergangenen Wochen recht klar Wesen und Grenzen der Löhrmann'schen Politik. Sie selbst hat dafür das Wort "Ermöglichungsstrategie" geprägt: Akteuren vor Ort sollen möglichst wenig verbindliche Vorgaben gemacht werden, denn die wissen selbst am besten, was gut für sie ist.

Löhrmann hat mit dieser Strategie ihren größten Erfolg gefeiert, den Schulkonsens 2011 mit der CDU, also die Vereinbarung, für zwölf Jahre die Strukturdebatte einzustellen. Erfunden wurde damals die Sekundarschule, erleichtert die Gründung von Gesamtschulen - an beiden wird länger gemeinsam gelernt.

Es folgte ein veritabler Boom: Inzwischen sind mehr als 130 neue Sekundar- und Gesamtschulen an den Start gegangen. Schon 2010 hatte die schwarz-rot-grüne "Schulfriedenskoalition" die Inklusion auf den Weg gebracht. Mehr Konsens als 2011 war nie in NRW in Sachen Schule.

Knapp drei Jahre später ist der Frieden rissig geworden. Bei der Inklusion ist gerade erst der Streit zwischen Land und Kommunen ums Geld zu Ende gegangen, und zwar mit einer Niederlage der Ministerin. Ursprünglich wollte sie den Städten gar kein zusätzliches Geld für die anstehende Umwälzung zugestehen; jetzt sind es 175 Millionen Euro, verteilt auf fünf Jahre, plus eine jährliche Anpassung. Die Inklusion ist zwischen Rot-Grün und Opposition wieder Streitthema wie jedes andere. Und die Zweifel im Land, ob die Schulen auf das Jahrhundertprojekt überhaupt vorbereitet sind, wachsen.

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Deutlich heftiger ist der Ärger, der Löhrmann beim "Turbo-Abi" entgegenschlägt. Die erneute Debatte erwischte sie Anfang des Jahres ziemlich plötzlich - als Niedersachsen ankündigte, 2015 zu G 9 zurückzukehren. Es folgte eine Offensive der G 8-Gegner, besonders der Bürgerinitiativen "Gib 8" und "G 9 jetzt". Eine Umfrage ergab eine Dreiviertelmehrheit gegen das "Turbo-Abi"; "G 9 jetzt" sammelt Unterschriften für eine Volksinitiative, will also den Landtag zwingen, über das Thema zu reden.

Schon das ist für Löhrmann gefährlich. Noch riskanter wird ihr Kurs, weil sich der runde Tisch großzügig fünf Monate Zeit nimmt, um Empfehlungen zu erarbeiten, deren Grundlage - die "Handlungsfelder" zur Entlastung - seit vier Jahren vorliegt. Die Zeit aber arbeitet nicht für Löhrmann. Noch ist zwar die große Mehrheit der Experten und der Parteien für G 8.

Deutliches Unbehagen ist allerdings schon jetzt bei Rot-Grün zu beobachten; die CDU weiß nicht recht, wie sie mit dem Protest umgehen soll, will aber von "Konsenssoße" (Landeschef Armin Laschet) nichts mehr wissen; selbst viele G 8-Befürworter sind weniger aus Begeisterung fürs "Turbo-Abi" gegen eine Rolle rückwärts als deshalb, weil sie die Rückabwicklung scheuen. Außerdem wollen die Bürgerinitiativen ihre Werbung für G 9 erst einmal fortsetzen.

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Kurz: Die Mehrheit pro G 8 scheint solider, als sie ist, zumal Löhrmann angekündigt hat, am Ende entscheide der Landtag. Mag auch das Festhalten am "Turbo-Abi", verbunden mit entschlossenen Entlastungen, vernünftig sein - Politik, Bildungspolitik erst recht, hält sich nicht immer an Vernunft.

Die Politik der "Ermöglichung" funktioniert bei G 8 nur noch vordergründig: Der runde Tisch als klassisches Löhrmann-Instrument hat den offenen Streit vertagt. Mittelfristig aber braucht es mehr. Bloß gute Vorschläge zur Entschärfung zu machen, reicht nicht. Die Frage nach mehr Verbindlichkeit sei "offenbar der springende Punkt", sagte die Ministerin unlängst.

Genau dort liegt die Chance für die G 8-Gegner, denn dieses Bedürfnis widerspricht Löhrmanns Grundansatz. "Wir haben die Ministerin immer wieder gebeten, die Schulen mehr in die Pflicht zu nehmen", sagt etwa Anja Nostadt von "Gib 8": "Das will sie aber nicht. Es wäre aber dringend nötig, klarere Vorgaben zu machen und die Verantwortung nicht weiter einfach zu delegieren."

Der Argwohn von 2010, jetzt blase Rot-Grün zum Generalangriff auf das ungeliebte Gymnasium, ist zwar schwächer geworden - verschwunden ist er nicht. "Bildungsnivellierung" beklagt der Verband Lehrer NRW. Löhrmann benachteilige bewusst die Gymnasien, schimpft FDP-Landeschef Christian Lindner. Nostadt unterstellt sogar Strategie: "Löhrmann weiß, dass das G 8 so viele Probleme mit sich bringt, dass am Ende die Schulform mit neun Jahren, also die Gesamtschule, siegen wird."

Beim Gymnasium geht es nur noch um Schadensbegrenzung. Bekommt Löhrmann die Probleme jetzt nicht in den Griff, ist die Akzeptanz für G 8 endgültig dahin - ebenso wie die Chance auf ruhiges Arbeiten, das sich viele Schulen wünschen. Und Landtagswahl ist auch schon in drei Jahren.

(RP)
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