Analyse Tabubruch Rot-Rot-Grün

Düsseldorf · Essay 25 Jahre nach dem Mauerfall schicken sich die politischen Nachfolger der SED an, erstmals in einem Bundesland die Politik zu bestimmen - mithilfe von SPD und Grünen. Nicht nur Genossen bereitet das Bauchschmerzen.

In diesen Tagen kann man ihnen kaum entgehen, den verwackelten Bildern von Menschen, die in einer grauen Novembernacht, vorbei an sprachlosen Grenzern, auf das Territorium der Bundesrepublik stürmen. Nie kamen deutsche Helden unscheinbarer daher, Ost-Jeans, eigenwillige Frisuren, kaum fähig, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Aber ja: Was sie in jener Nacht feierten, war ein großartiger Sieg - die Kapitulation ihres Staates, der sie so lange gefangen gehalten hatte, der sie bespitzelt hatte, der ihnen ihre Kinder wegnahm, wenn es ihm passte, und der sie abknallte wie Hunde, wenn sie versuchten zu fliehen.

25 Jahre ist das her, und wie so oft liegt es am Datum, dass man sich Dinge in aller Deutlichkeit vor Augen führt, an die man im Grunde öfter denken sollte. Umso größer dann das Erstaunen darüber, was Zeit bewirkt. 25 Jahre nach der historischen Wende schicken sich die politischen Nachfolger der Unterdrücker von damals an, den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes zu stellen. Gut möglich, dass diese Premiere dem Linken Bodo Ramelow in Thüringen gelingen wird, wenn Sozialdemokraten und Grüne ihm zur hauchdünnen Mehrheit verhelfen.

Danach sieht es aus. Nachdem Thüringens Grüne geschlossen für Koalitionsverhandlungen gestimmt hatten, stellte die SPD am Wochenende in Erfurt eine Verhandlungsmannschaft für Rot-Rot-Grün zusammen. Offizielle Gespräche können aber erst beginnen, wenn das Ergebnis der SPD-Mitgliederbefragung am 4. November vorliegt.

Demokratie liefert selten Ergebnisse, mit denen alle zufrieden sind. Bisweilen, wie im Falle Thüringens, erscheinen die Resultate sogar bizarr. Ausgerechnet in Erfurt, wo die SPD 1891 nach mehr als einem Jahrzehnt rigoroser Unterdrückung wieder auf die politische Bühne fand, soll Deutschlands älteste Partei den Steigbügel zum Aufstieg für jene halten, deren politische Vorgänger die längste Diktatur auf deutschem Boden zu verantworten hatten?

Nun darf man Bodo Ramelow getrost unterstellen, dass weder er noch andere in seiner Partei die Absicht haben, etwa eine Mauer zu bauen. Auch werden Bundestagsabgeordnete der Linkspartei seit März nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Wahlerfolg der Linken in Thüringen kam auf demokratisch einwandfreie Weise zustande, wenngleich er auf brachialen Umverteilungsversprechen beruht. Aber das kommt eben an in einem Land wie Deutschland, in dem 20 Prozent der Steuerzahler mehr als 70 Prozent des Steueraufkommens entrichten. Ist die Integration der Linkspartei in Wahrheit eben eine Erfolgsgeschichte? Und offenbart, wie der "Spiegel" provokant fragt, eine Wahl Ramelows zum Ministerpräsidenten nicht das endgültige Scheitern der DDR, weil die Bundesrepublik sogar ihre einstigen Gegner in sich habe aufgehen lassen?

Fakt ist: Für SPD-Chef Gabriel war die Linke nie ein Wunschpartner. Aber wenn er 2017 Bundeskanzler werden will, wird er sie mit ziemlicher Sicherheit brauchen. So einfach ist das und trotzdem so schwierig. Das Aller-Aller-Schwierigste für die Sozialdemokraten bleibt dabei, dass in der Parteiführung der Linken derzeit niemand die Absicht hat, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. "Wir sind uns einig, diesen Begriff nicht zu verwenden", unterstrich Fraktionschef Gregor Gysi in der Zeitschrift "Super Illu".

Schon auf ihrem Gründungsparteitag hatte Oskar Lafontaine die Linke historisch geschickt so eingeordnet: "Sie steht in der Tradition derer, die unter den Sozialistengesetzen Bismarcks waren und die in den Konzentrationslagern Hitlers umgekommen sind: Sie fühlt sich dem Erbe derer verpflichtet, die als Sozialdemokraten in der DDR eingesperrt waren, wie den Kommunisten, die in der Bundesrepublik Deutschland verfolgt wurden." Von Opfern ist bis heute viel die Rede. Von Tätern nirgendwo.

Weit mehr als die Grünen (deren Parteiname immerhin den Zusatz "Bündnis 90" aus den Zeiten des politischen Neubeginns im Osten enthält) sind die Sozialdemokraten im Bund gespalten. Sie ahnen: Rot-Rot-Grün wäre ein Tabubruch. Da hilft es wenig, dass Ramelow, der evangelische Christ, der im Westen aufwuchs, bei Karstadt lernte und dessen Landesverband als einziger in den Verhandlungen mit SPD und Grünen den Begriff "Unrechtsstaat" akzeptieren würde, wie ein Linker "light" wirkt.

Sollte Ramelow in die thüringische Staatskanzlei einziehen, wäre das zugleich eine ungeheure Bestätigung für all jene in seiner Partei, die weniger pragmatisch denken. Denen konfessionelle Schulen ein Dorn im Auge sind. Die die jüngere deutsche Geschichte in den Schulbüchern womöglich gerne etwas anders beschreiben würden. Für die von DDR mehr geblieben ist als lustige Ampelmännchen. Und für die Opfer des SED-Regimes? Für die sei jede Regierungsbeteiligung der Linken eine "Riesenbelastung", sagt der Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe.

Zum Unbehagen vieler SPD-Mitglieder beitragen dürften die jüngsten Umfragen: Bundesweit fänden 40 Prozent es schlecht, käme Ramelow an die Macht, 29 Prozent würden das begrüßen. Nur im Osten sind 46 Prozent für einen linken Regierungschef, 25 Prozent dagegen. Rot-Rot-Grün im Bund lehnen 56 Prozent der Deutschen ab. Lediglich 23 Prozent der Befragten befürworten laut aktuellem "Politbarometer" ein solches Bündnis.

Wie auch immer: Rot-Rot-Grün in Thüringen wäre das gewagteste politische Experiment seit Langem. Spannung garantiert, Ausgang ungewiss. Auf jeden Fall dürfte die Diskussion über das, was die DDR war und was von ihr geblieben ist, dann das Gedenken am Jahrestag des Mauerfalls weit überdauern. Das ist nicht das Schlechteste.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
BICC
Stichwort BICC