Terroranschläge in Brüssel Belgiens schwarzer Tag

Brüssel · Drei Explosionen lösen Chaos in der belgischen Hauptstadt aus und legen das öffentliche Leben lahm. Und schnell werden Vorwürfe wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen laut. Eindrücke aus einer Metropole unter Schock.

Anschlag in Brüssel: Massen-Evakuierung und Menschen auf der Flucht
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Brüssel: Menschen fliehen nach Anschlag aus Flughafen Zaventem

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Foto: afp

Um 8 Uhr will Alexandre Dammous gerade die Abflughalle des Brüsseler Flughafens betreten, als er hört, wie ein Bus in eine Mauer rast. Zumindest glaubt Dammous das — die erste Explosion habe sich dumpf angehört, erzählt er, gar nicht, wie man sich eine Explosion vorstelle. "Im ersten Moment dachte ich: Das ist ein Anschlag gewesen. Aber dann dachte ich: Das kann nicht sein, es muss ein Unfall gewesen sein." Sofort ist alles voller Rauch, "oder eher Staub", sagt Dammous: "Also bin ich umgekehrt und zurückgelaufen."

Der Belgier ist international tätiger Anwalt für Unternehmensrecht, geschäftlich viel mit dem Flieger zwischen Belgien und Florida unterwegs, wo er selbst wohnt. Dammous kennt den Flughafen gut. Eine der beiden Explosionen habe sich genau dort ereignet, wo alle amerikanischen Fluglinien ihren Check-in haben. Morgens sei es dort immer sehr voll. Unter anderem gehe dann der Flug nach New York, mit dem viele jüdische Geschäftsleute aus Antwerpen unterwegs seien. Dammous ist gebucht nach Atlanta. Von dort soll es weitergehen nach Tampa, Florida. Mit ihm reisen seine Eltern. Sie wollen nach Las Vegas weiterfliegen und den Grand Canyon besuchen.

Angst habe er nicht gehabt, erzählt Dammous, auch später nicht. Er habe sich aber Sorgen gemacht, "gerade um meine Eltern". Er sieht Helfer, die Menschen aus dem Flughafen bringen: "Ich dachte erst, die Leute seien nur verwundet, aber dann habe ich die weißen Tücher über einigen Tragen gesehen." Es dauert Stunden, bis alle Passagiere evakuiert sind; manche müssen vorerst auf dem Rollfeld ausharren.

Auch die Schülerin Asna erlebt die Explosionen mit. "Ich wollte mit meiner Klasse nach Lissabon fliegen", erzählt sie der belgischen Tageszeitung "La Libre Belgique". Ihr Eindruck: "Für mich ist es ein gezielter Angriff, denn in der Nähe der Explosion hielten sich viele Israelis auf."

Alphonse Youla arbeitet am Brüsseler Flughafen für ein Unternehmen, das das Gepäck sichert. Der 40-Jährige berichtet: "Ich habe zwei Explosionen gehört und wie jemand etwas auf Arabisch gerufen hat, aber ich habe nicht verstanden, was er sagte." Es habe "unbeschreibliches Chaos" geherrscht: "Decken waren eingestürzt, und überall waren Verletzte." Er habe geholfen, fünf Tote nach draußen zu tragen.

Die Verletzten hätten zerschmetterte Beine gehabt, "als wenn eine Bombe in einem Gepäckstück explodiert ist". Andere Augenzeugen berichten, vor den Explosionen seien Schüsse zu hören gewesen. Später finden Sicherheitskräfte einen nicht explodierten Sprengstoffgürtel und ein Kalaschnikow-Sturmgewehr in der Abflughalle.

Von "unbeschreiblichem Chaos" spricht auch Jef Versele aus Gent. Die Bombe sei "von unten" gekommen "und ging durch das Dach". "La Libre Belgique" zitiert außerdem den Franzosen Lahouani Ziahi, der den Anschlag überlebt hat. Für ihn war es nach dem vergangenen November schon das zweite Mal, dass er knapp dem Tod entkam. "Ich war nur 15 Minuten vor den Anschlägen in Paris am Bataclan. Heute Morgen waren wir hier in Brüssel. In wenigen Sekunden ist alles zusammengebrochen. Überall waren Staub und flüchtende Leute. Das verfolgt mich."

Das Personal am Flughafen war offenbar unzureichend vorbereitet. Adamo (43) arbeitet dort beim Reinigungspersonal. Er sagt: "Wir wissen, wie wir den Flughafen bei einem normalen Zwischenfall zu evakuieren haben, aber nicht, was bei einem Anschlag zu tun ist." Anna, eine junge Frau, die mit ihrer Mutter um 8.30 Uhr nach Barcelona fliegen wollte, berichtet, dass die Flughafenangestellten nach der ersten Explosion noch behauptet hätten, es sei nichts Ernstes passiert. Doch dann seien Polizisten gekommen und hätten sie aufgefordert, das Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen.
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Eine gute Stunde nach den Explosionen am Flughafen rasen Polizeifahrzeuge und Krankenwagen die Rue de la Loi hinunter, die zentrale Achse des Europaviertels. Die Straße ist kurz vor der Metrostation Maelbeek abgesperrt. Ein Helikopter schwebt in der Luft. Der Eingang des U-Bahnhofs befindet sich in einem Bürogebäude, viel zu sehen ist daher nicht. Doch auch dort unten hat es eine Explosion gegeben — gegen 9.15 Uhr hat eine Bombe einen U-Bahn-Wagen zerfetzt. Fotos zeigen grotesk verbogene Türen und rußgeschwärzte Sitzreihen der Bahn, in der gerade 20 Menschen gestorben sind.

Auch hier entscheidet der Zufall über Leben und Tod mit. Eine 43-jährige Deutsche bricht etwas später als sonst zur Arbeit auf und sieht nur noch die Rücklichter der U-Bahn, ehe eine Durchsage zum Verlassen der Station auffordert.

Evan Lamos, freier Mediengestalter in Brüssel, sitzt in der U-Bahn, als der Zug plötzlich stoppt. "Wir haben gerade wegen ,eines Vorfalls auf den Schienen' angehalten", schreibt er bei Twitter. Und: "Von etwas weiter weg kann ich ein leises Dröhnen hören." Dann müssen die Passagiere den Zug verlassen. Der Sender Euronews zeigt, wie Menschen durch einen verrauchten Tunnel zum nächsten Bahnhof gehen.

Dem ORF erzählt ein Augenzeuge von den Zuständen in der Station Maelbeek: "Nach wenigen Sekunden war alles voller Rauch." Ein U-Bahn-Mitarbeiter habe versucht, die Menschen zu evakuieren. In der Lobby eines nahen Hotels sei ein "Notlazarett" eingerichtet worden. "Dort wurden Schwerverletzte hingebracht. Der Raum füllte sich und war so voll, dass auf angrenzende Räume ausgewichen werden musste. In der Lobby saßen auch Verletzte, teilweise mit Kopfwunden, die aber nicht sofort verarztet wurden, weil man sich erst um die Schwerverletzten kümmern musste." Die Opfer werden in 15 Krankenhäusern versorgt. Menschen werden aufgerufen, Blut zu spenden.
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Seit 7.15 Uhr sitzt Herbert Reul (CDU), Mitglied des Europaparlaments aus Leichlingen, in seinem Büro im 14. Stock des Parlamentsgebäudes. "Um kurz nach halb neun bekamen wir die schreckliche Nachricht von den Explosionen am Brüsseler Flughafen mit, wenig später vom Brand in der Metro-Station, die ganz in der Nähe liegt, etwa 700 Meter von uns entfernt", sagt Reul. "Ich bin jetzt zugegeben etwas unruhig." Im Büro hört Reul die Alarmgeräusche von der Straße, das Parlamentsgebäude sei vorübergehend komplett abgeriegelt worden.

EU-Parlamentarier hätten nicht herausgekonnt, später habe sich das wieder etwas entspannt, man habe das Gebäude verlassen können. "Wir spüren hier alle eine starke Anspannung", sagt Reul. Der Eingang des Gebäudes habe schon vor Wochen einen neuen Sicherheitsbereich erhalten. "Gerade hatte sich die Terrorangst in Brüssel gelegt, alles war wieder im Normalmodus, jetzt ist sie wieder da."

Die EU-Parlamentarier bemühen sich, normal weiterzuarbeiten. "Unsere Angehörigen sind natürlich aufgeregt. Aber wir machen hier weiter", sagt Elmar Brok (CDU), der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses. Auch Sven Giegold, EU-Abgeordneter von den Grünen, schildert: "Hier herrscht eine fassungslos gespenstische Atmosphäre im Gebäude. Wir haben uns entschlossen, die Arbeit fortzusetzen. Denn das wollen die Terroristen ja: Dass wir hier in Europa aufhören, unser normales Leben zu führen. Den Gefallen werden wir ihnen nicht tun."

Auch ihm ist der Terror nahegekommen: "Ein Mitarbeiter von mir hatte großes Glück. Er war nur zwei, drei Minuten vor dem Anschlag in der Metro-Station. Er hat die ganzen Splitter gesehen, das ganze Elend."

In Brüssel ist an diesem Tag auch die stellvertretende AfD-Vorsitzende Beatrix von Storch unterwegs. Die Nachricht, die sie über Facebook schickt, empört viele Leser nicht nur wegen des betont lockeren Einstiegs, sondern auch wegen des Schlusssatzes: "Viele Grüße aus Brüssel. Wir haben soeben das Parlament verlassen. Hubschrauber kreisen. Militär rückt an. Sirenen überall. Offenbar viele Tote am Flughafen und am Zentralbahnhof. Hat aber alles nix mit nix zu tun." Später präzisiert von Storch, sie sei in Sicherheit und habe deswegen die "Grüße" geschickt.


Eine schnelle Reaktion aus Übersee schickt auch Donald Trump. "Ich würde unsere Grenzen zumachen", sagt der republikanische US-Präsidentschaftsbewerber dem Sender Fox News.
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Eine Frau humpelt nach Hause, Andrea heißt sie. Sie ist Übersetzerin bei den EU-Institutionen und ist den ganzen Weg von der Arbeit zurückgelaufen, obwohl sie schon länger einen verstauchten Knöchel hat. Sie steigt immer in Maelbeek aus, nur beginnt ihr Werktag schon um acht Uhr, was an diesem Tag ein echtes Glück war. Den ganzen Tag haben sie im Büro versucht abzugleichen, wer von den noch Fehlenden frei hat, sich bereits von einem sicheren Ort gemeldet hat — oder tatsächlich vermisst wird. Die Suche ist schwierig, weil das Brüsseler Mobilfunknetz immer wieder zusammenbricht. Vize-Premier Alexander De Croo ruft über Twitter dazu auf, Nachrichten möglichst über soziale Netzwerke und Apps auszutauschen, um eine Überlastung des Telefonnetzes zu vermeiden.

Die Anschläge haben Brüssel weitgehend lahmgelegt. Das Mobilfunknetz ist trotz der Appelle der belgischen Regierung zusammengebrochen, weite Teile der Innenstadt sind abgesperrt. U-Bahn und Busse haben den Betrieb eingestellt, sämtliche Bahnhöfe wurden auf Anweisung der Polizei geschlossen.

Das Auswärtige Amt in Berlin appelliert via Twitter: "Bitten Reisende, sich in Brüssel nur mit erhöhter Aufmerksamkeit und Wachsamkeit zu bewegen." Alle Mitarbeiter der EU-Institutionen erhalten eine E-Mail. "Liebe Kollegen", heißt es darin, "die Sicherheitslage bleibt kritisch. Die europäischen Institutionen haben die Alarmstufe auf Orange heraufgesetzt." Als "Vorsichtsmaßnahme" sollten alle Bediensteten in ihren Gebäuden bleiben.

Die belgischen Kinder dürfen über Mittag ihre Schulen nicht verlassen — das twittert der Krisenstab des Innenministeriums. Trotzdem holen viele Eltern ihre Kinder vorzeitig von der Schule ab. An der Deutschen Schule im Vorort Wezembeek ist am Ende des Unterrichtstages nur noch etwa ein Viertel der Schüler in der Klasse.

Audi streicht die Nachmittagsschicht in seinem Werk in Brüssel. Grund sei die Empfehlung der belgischen Behörden an die Bürger, zu Hause zu bleiben. In der Fabrik mit rund 2500 Beschäftigten sei zudem der Werksschutz erhöht worden, teilt das Unternehmen mit.
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Gegen Mittag machen Meldungen die Runde, das Kernkraftwerk Tihange bei Lüttich werde evakuiert. Der Meiler gilt ohnehin als marode und störanfällig. Eine Evakuierung wird aber vom Betreiber Electrabel dementiert: Vielmehr sei ein Teil des Personals in den Meilern Tihange und Doel nach Hause geschickt worden. "Nur wer wirklich da sein muss, bleibt", sagt ein Sprecher der Atomaufsicht. Die Personalstärke entspreche der an Wochenenden.

Auch auf dem Campus der Freien Universität im Südosten Brüssels ist die Lage angespannt. Jeder solle sofort ein Gebäude aufsuchen und dort bleiben, heißt es auf dem Twitterkanal der Universität. Später ist auf dem Gelände ein Knall zu hören — eine kontrollierte Explosion, die ein Spezialkommando herbeigeführt hat. Die Hochschule wird für den Rest der Woche geschlossen. Auch eine Explosion in einer weiteren Metrostation geht offenbar auf ein Polizeikommando zurück, das dort nach weiteren Bomben sucht.

An Soldaten in der Stadt, die im Laufe des Tages in zusätzlichen Scharen die öffentlichen Gebäude bewachen, sind die Brüsseler gewöhnt. Militär gehört seit dem Anschlag auf das Jüdische Museum 2014 zum Stadtbild. Erneut massiv verstärkt wurde die Präsenz, als die Verbindung der Paris-Attentäter nach Molenbeek ans Licht kam und die Suche nach Salah Abdeslam im November quasi in einer Vollsperrung der Stadt mündete. Nun herrscht wieder höchste Terrorwarnstufe.

Stundenlang ist nicht klar, ob der Horror nun vorbei ist: "Wir befürchten, dass Personen noch auf freiem Fuß sind", sagt der belgische Außenminister Didier Reynders am frühen Nachmittag. Erst um kurz vor fünf twittert das Krisenzentrum: "Die Menschen können ihr Zuhause, ihre Schule oder ihren Betrieb verlassen." Am späten Nachmittag öffnen auch die meisten Bahnhöfe wieder. Bewacht werden sie von Hunderten Soldaten.
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Eigentlich wollten die Polizisten am Brüsseler Flughafen ab heute streiken — aus Protest gegen die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen. Nun glauben sie, dass sich ihre Kritik auf schreckliche Weise bewahrheitet hat. Man hätte das Schlimmste verhindern können, sagt Vincent Gilles, Chef der Polizeigewerkschaft SLFP Police: "Aber man hat uns ausgelacht." Schon im November habe man das Innenministerium darauf aufmerksam gemacht, dass am Flughafen nicht einmal die Mindestanzahl von Beamten erreicht werde.

Pierre Goossens, ein anderer Polizeigewerkschafter, berichtet von eklatanten Sicherheitslücken im Flughafen. So seien viele abgelaufene Zugangsausweise in Umlauf. Und im Zaun rund um das Flughafengelände gebe es Löcher. "Manchmal befinden sich Leute auf den Rollfeldern, die ohne Kontrolle da reingekommen sind", sagt Goossens. Sollte es doch einmal Kontrollen geben, seien die Mitarbeiter auf dem Flughafen offenbar vorgewarnt. "Dann wird alles schnell in Ordnung gebracht, und die Kollegen warnen sich gegenseitig, bevor die Kontrolleure auftauchen."

Der Brüsseler Flughafen soll auch heute geschlossen bleiben. Der Schaden am Gebäude sei zu groß, sagt Direktor Arnaud Feist. Rund 600 Flüge wurden annulliert, 60.000 Reisende sind davon betroffen — unter anderem Alexandre Dammous und seine Eltern. Wann sie ihren Flug in die USA nachholen können, ist noch nicht klar. "Zumindest meine Airline hatte mich schon auf denselben Flug morgen umgebucht", erzählt er, selbst etwas erstaunt: "Zur selben Uhrzeit." Das hat sogar Dammous, den erfahrenen Flieger, zusammenzucken lassen.


Die Autoren Matthias Beermann, Henning Bulka, Philipp Jacobs, Ludwig Krause, Birgit Marschall, Emily Senf, Frank Vollmer, Christopher Ziedler, mit Material der Nachrichtenagenturen

(RP)
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