Interview "Inklusion stellt das gegliederte Schulsystem infrage"

Düsseldorf · Gemeinsamer Unterricht behinderter mit nicht behinderten Kindern - was bedeutet das im Alltag? Ein Förderschullehrer berichtet.

Welche Schule ist die richtige für mein behindertes Kind? Auf diese Frage sucht Thomas Lemm mit den Eltern eine Antwort. Der 45-Jährige ist Lehrer an einer Förderschule für geistig Behinderte in Hünxe und mit der anderen Hälfte seiner Stelle Inklusions-Koordinator des Kreises Wesel: Er berät Schulen und Eltern - und kennt daher die Probleme aus erster Hand.

Kann jedes behinderte Kind jede Schule besuchen?

Lemm Angesichts der aktuellen Bedingungen, etwa bei der personellen Ausstattung: Nein. Nicht jede Schule ist so ausgestattet, dass jedes behinderte Kind kommen kann.

Idealerweise sollte es aber so sein?

Lemm Ja.

Schließt das die Gymnasien ein?

Lemm Das wäre Sinn und Zweck der Inklusion - man kann das Prinzip ja mit "Eine Schule für alle" übersetzen. Die Frage ist allerdings, ob das am Ende nicht das gegliederte System der allgemeinen Schulen insgesamt infrage stellt.

Wollen Sie damit sagen, dass die Umsetzung der Inklusion die Schulform Gymnasium überflüssig macht?

Lemm Ich glaube, dass wir langfristig darüber nachdenken müssen, ob wir neben der Gesamt- und Sekundarschule noch ein differenziertes Schulsystem brauchen. Die Schulen, an denen Inklusion vorbildlich umgesetzt wird, können durch die Offenheit der Bildungsgänge allen Schülern ein individuell passendes Lernangebot machen.

Das dürfte die Vorbehalte vieler Gymnasien gegen die Inklusion nicht eben kleiner machen.

Lemm Ich glaube, dass viele Gymnasien sich einfach nicht vorstellen können, wie das klappen soll. Wir haben jahrzehntelang gelernt, dass nur der ans Gymnasium gehen kann, der die entsprechenden kognitiven Fähigkeiten hat. Es gibt aber auch viele behinderte Schüler, die Abitur machen können - Hör- oder Sehbehinderte zum Beispiel.

Die sind ja auch nicht der Kern des Problems.

Lemm ... sondern etwa die geistig Behinderten, richtig. Da herrscht immer noch oft das Missverständnis: Wer am Gymnasium ist, muss auch das Abitur machen. Sicher ist die Spannweite zwischen behinderten und nicht behinderten Schülern am Gymnasium am größten.

Was ist der wichtigste Einzelfaktor?

Lemm Die Haltung der Lehrer. Die fußt natürlich auf einer guten Ausbildung. Direkt im Anschluss käme die Frage, ob ich eine Klasse mit einem oder zwei Lehrern besetze.

Welche Kinder sind an einer Förderschule besser aufgehoben?

Lemm Kinder mit schwersten emotionalen und sozialen Störungen. Auch bei Kindern mit geistiger Behinderung muss man immer abwägen. Und was die schwerst Mehrfachbehinderten angeht - auch die gehören ja dazu. Für die gibt es aber im Moment kaum eine Schule, die entsprechend ausgestattet wäre.

Können Sie Eltern solcher Kinder von einer Förderschule überzeugen?

Lemm Die Eltern sind meist dankbar für eine ergebnisoffene Beratung, trotzdem entscheiden sich am Ende manche gegen meinen Rat. Aber alle Eltern nicht behinderter Kinder müssen ja genauso diese Entscheidung für eine Schulform treffen.

(RP)
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