Analyse Türkei wegen Armeniern am Pranger

Istanbul · Jahrzehntelang war in der Türkei eine Erwähnung der Ermordung Hunderttausender Armenier 1915 tabu. Das hat sich geändert. Aber eine Schuld an den Massakern will das Land bis heute nicht eingestehen - und isoliert sich damit.

Kurz vor dem Armenier-Jahrestag am 24. April eskaliert der Streit zwischen der Türkei und dem Westen über die Einstufung der Verbrechen, die 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, begangen wurden. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bekräftigte erst vor wenigen Tagen, sein Land werde angesichts der internationalen Forderungen nach Anerkennung des Genozids "nicht das Haupt beugen".

Mit Lobby-Arbeit und der Entsendung ihres Außenministers Mevlüt Cavusoglu nach Washington versucht die Türkei, eine öffentliche Anerkennung des Völkermords durch US-Präsident Barack Obama in dessen Gedenkbotschaft zum 24. April zu verhindern. Die grundverschiedenen Versionen der Ereignisse in der Endphase des Osmanenreiches dürften jedoch auch nach dem 100. Jahrestag bestehen bleiben.

Ausgangspunkt für die Kontroverse ist die historische Faktenlage, die - zumindest nach türkischer Ansicht - unterschiedliche Schlussfolgerungen zulässt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten rund zwei Millionen christliche Armenier im Osmanischen Reich, nach dem Krieg waren es weniger als eine halbe Million. Im Jahr 1915 ordnete die osmanische Regierung die Umsiedlung der Armenier an; die ersten Verhaftungen fanden am 24. April jenes Jahres statt. Deportationen, Massaker und Todesmärsche kosteten Hunderttausende das Leben. Armenien geht von 1,5 Millionen Toten aus, die Türkei setzt die Zahl der Opfer weit niedriger an. Heute leben weniger als 100 000 Armenier in der Türkei.

Davutoglus Regierung räumt ein, dass die Armenier großes Leid erlebten. Laut Ankara leitete die osmanische Reichsregierung die Zwangsumsiedlung als Antwort auf die Kollaboration armenischer Rebellen mit den im Osten vorrückenden russischen Truppen ein. Der nationalistische Historiker Yusuf Halacoglu, ein ehemaliger Vorsitzender der Türkischen Gesellschaft für Geschichte, argumentiert, die Armenier hätten das Osmanen-Reich "hinterrücks angegriffen".

Obwohl die Osmanen eine geordnete Umsiedlung geplant hätten, seien durch die Kriegsbedingungen sowie "Banditentum, Hunger, Seuchen und die allgemeine Gesetzlosigkeit eines kollabierenden Staatsapparats" viele Menschen getötet worden, formuliert das türkische Außenministerium. Zudem betont die Türkei, dass gleichzeitig auch viele muslimische Türken ums Leben kamen. Manche Politiker, darunter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, vertreten die Ansicht, dass die Zahl der muslimischen Opfer mindestens so hoch war wie die der christlich-armenischen.

Die meisten Fachleute zweifeln allerdings an dieser Darstellung. Sie weisen darauf hin, dass die osmanische Regierung eine dauerhafte Entfernung der Armenier aus Anatolien anstrebte, nicht nur eine vorübergehende Vertreibung. Historiker wie Mehmet Polatel von der Istanbuler Koc-Universität unterstreichen, dass fast gleichzeitig mit der Vertreibung der Armenier die Verteilung von deren Besitz an Muslime begann - und zwar auf Grundlage staatlicher Verordnungen. Für Polatel ist das ein klarer Beweis dafür, dass die Armenier nicht umgesiedelt, sondern getötet werden sollten.

Für viele Türken ist das Wort vom Genozid dennoch unannehmbar. Zwar kann seit einigen Jahren über das Thema diskutiert werden, ohne dass die Anhänger der Völkermord-These wie jahrzehntelang üblich eine Verurteilung wegen "Beleidigung des Türkentums" befürchten müssen. Auch gibt es Bücher und wissenschaftliche Konferenzen zur Armenierfrage. Zum ersten Mal überhaupt melden sich Armenier zu Wort, die ihre Identität lange Zeit verschwiegen - oder gar nicht kannten, weil ihre Vorfahren als Überlebende der Massaker von türkisch-muslimischen Familien aufgenommen worden waren. Der heutige Präsident Recep Tayyip Erdogan gedachte im vergangenen Jahr, damals noch als Regierungschef, sogar erstmals offiziell des Leids der Armenier. Die hartgesottenen türkischen Nationalisten, die noch vor einigen Jahren die Diskussion bestimmten, sind seltener zu hören.

Doch eines hat sich nicht geändert: Erdogan und andere Politiker relativieren die Taten der Osmanen-Regierung stets als patriotisch motivierte Entscheidungen zur Rettung des Vaterlandes. Von Versagen, Schuld oder Verbrechen ist keine Rede. Die Türkei sieht sich selbst als "saubere" Nation, in deren Geschichte kein schwarzer Fleck zu finden ist. Es gebe nichts, für das sich die Türken schämen müssten, lautet das Credo. Und diese Haltung bleibt auch in der Bevölkerung weit verbreitet. Die Forderung nach Anerkennung des Genozids trifft bei der Mehrheit der Bürger auf Ablehnung.

Im Parlament von Ankara unterstützten die beiden großen Oppositionsparteien, die säkularistische CHP und die nationalistische MHP, die scharfen Reaktionen der Regierung nach den Äußerungen des Papstes und der Resolution des EU-Parlaments. Lediglich die Kurdenpartei HDP, die bei der anstehenden Parlamentswahl am 7. Juni linksliberale Wähler umwirbt, will sich der gemeinsamen Haltung der anderen Parteien nicht anschließen.

In der Debatte ist von türkischer Seite oft zu hören, dass im Ersten Weltkrieg und davor auch viele Muslime Opfer von Verbrechen wurden, ohne dass die Welt von Völkermorden spricht. Selbst aufgeklärt-liberale Intellektuelle wie der Autor Mustafa Akyol betonen, dass das Schicksal der Armenier nicht einzigartig war in den blutigen Zeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In einem Offenen Brief an den Papst unterstrich Akyol, er selbst stamme von Tscherkessen ab, die im 19. Jahrhundert im Kaukasus vom damaligen Russischen Reich abgeschlachtet wurden.

Die fehlende Bereitschaft, schmerzhaften Aspekten der eigenen Vergangenheit ins Auge zu schauen, bestimmt weiterhin die Position der offiziellen Türkei, die das Thema am liebsten weiterhin unter den Teppich kehren würde. Appelle von außen können diese Haltung ohnehin kaum beeinflussen. Dazu bedarf es einer Dynamik im Land selbst. Nur eine junge Generation, die neue Fragen stellt und auf Antworten dringt, kann das Land dazu bringen, das dunkle Kapitel der türkischen Geschichte endlich ehrlich aufzuarbeiten.

(RP)
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