Reportage Türkei wird neue Basis des Menschenhandels

Kizkalesi · Nahe der Hafenstadt Mersin gehen syrische Flüchtlinge in die Boote Richtung Europa. Die Behörden drücken angeblich beide Augen zu.

Hassan schüttelt den Kopf. Eine Reise nach Europa kommt für ihn nicht in Frage. "Wo soll ich denn das Geld hernehmen?" Hassan, ein junger Mann mit dunklem Teint und pechschwarzem Krausbart, floh vor zwei Jahren aus dem syrischen Aleppo in die Türkei und fand Arbeit als Aushilfe in einem Hotel in Kizkalesi, einem Touristenort eine Autostunde westlich der Hafenstadt Mersin. In Kizkalesi leben viele Flüchtlinge aus Syrien, aber nicht alle wollen bleiben wie Hassan. Erst vor zehn Tagen stiegen mehr als 100 von ihnen in einer Bucht in der Nähe von Kizkalesi in ein Fischerboot und fuhren aufs Meer hinaus. Ihr Ziel: Italien.

Hassan bleibt in Kizkalesi, weil ihm das Geld fehlt und er die weite Reise nach Westen fürchtet. Mehrere Bekannte von ihm wagten die Fahrt in Fischkuttern und altersschwachen Frachtern nach Italien oder Griechenland. Pro Kopf 5000 Dollar zahlten sie an die Schleuser. Doch ihr Schiff kenterte, und alle ertranken.

Auch für die Flüchtlingsgruppe, die neulich bei Kizkalesi ins Boot stieg, wurde nichts aus dem Traum Europa, wenn die Menschen auch mit dem Leben davonkamen. Das Fischerboot brachte 140 Syrer, darunter viele Kinder, aufs Meer hinaus, wo sie auf den Frachter "Burcin" umsteigen und nach Italien weiterfahren wollten. Das gefährliche Rendezvous auf hoher See scheiterte: Mit Luftunterstützung und einer bewaffneten Eliteeinheit fing die türkische Küstenwache die "Burcin" ab, auf der sich bereits 333 andere Flüchtlinge befanden. Die Flüchtlinge auf dem Fischerboot kamen nicht mehr dazu, auf die "Burcin" umzusteigen. Ihr Boot wurde von der Küstenwache ans Ufer geleitet, wo alle Insassen festgenommen wurden.

Millionengeschäft für die Schleuser

Es war nicht das erste Mal, dass die Gegend um Mersin im Zusammenhang mit dem Menschenschmuggel aus Nahost, Asien und Afrika nach Europa auffiel. Anfang Januar kamen mehrere hundert Flüchtlinge auf schrottreifen Frachtern, die in Mersin gestartet waren, in Italien an. Vorher waren andere Flüchtlingsschiffe bereits vor Zypern und Kreta aufgetaucht. Auch sie kamen aus Mersin.

Die Stadt wird mehr und mehr zu einem Zentrum des Menschenhandels zwischen Krisenregionen wie Syrien und den wohlhabenden Ländern Westeuropas. Die syrische Grenze ist nur 150 Kilometer von Mersin entfernt, und bis vor wenigen Monaten gab es sogar eine Fährverbindung zwischen Mersin und dem syrischen Latakia. In Mersin kaufen die Schleuserbanden alte Frachter für ein paar hunderttausend Dollar auf und verlangen von den Flüchtlingen bis zu 8000 Dollar pro Kopf für die Reise nach Westen. Bei 300 oder mehr Menschen an Bord eines Frachters ergibt das Millionengewinne.

Von verschwiegenen Buchten bei Kizkalesi und anderen Küstenorten aus werden die Syrer nachts gruppenweise in Fischerbooten zu den Frachtern gebracht, sagt ein Mitglied der Sicherheitskräfte bei Mersin. Die türkische Küstenwache gehe nach Kräften gegen das Treiben vor, behauptet der Mann. Hinter vorgehaltener Hand erzählen einige Türken in Mersin allerdings ganz andere Geschichten, von hartnäckigen Gerüchten, wonach die Menschenschmuggler die Behörden schmieren, um beim Transport der Flüchtlinge die meiste Zeit in Ruhe gelassen zu werden. Die türkischen Behörden wüssten, was vor sich gehe, weil die Küsten doch ständig überwacht würden, sagt ein Bewohner von Mersin. Es könne gar nicht sein, dass der Menschenschmuggel ohne Duldung des Staates ablaufe.

"Ich will einfach nur leben"

Potenzielle Kunden der Schleuser gibt es jedenfalls viele in Mersin. "Ich bin erst heute morgen aus Damaskus gekommen", sagt ein junger Mann, der zusammen mit zwei Bekannten die Hafengegend erkundet. Seinen Namen möchte er lieber nicht nennen. Er hat bereits Schleuser bezahlt, die ihn aus der syrischen Hauptstadt über die türkische Grenze brachten. Jetzt träumt er von der Weiterreise nach Europa. "Ich will einfach nur leben."

In Mersin ist das für viele Flüchtlinge nicht einfach. Rund 80.000 Syrer haben in den Hafenstadt Zuflucht gefunden, das sind etwa zehn Prozent der Stadtbevölkerung. Einige wenige sind wohlhabend, zeigen das auch und kurven in Luxusautos durch die Stadt, doch die meisten der Syrer sind arm und haben kein Dach über dem Kopf.

Resat Asan, Vorsitzender der Flüchtlingshilfsorganisation "Göc-Der" in Mersin, kümmert sich um die Neuankömmlinge, besonders um Flüchtlinge aus dem kurdischen Teil Syriens wie der lange umkämpften und heute fast völlig zerstörten Grenzstadt Kobane. "Die Hilfe für die Flüchtlinge kommt von den einfachen Leuten, nicht vom Staat", sagt Asan. Viele kurdische Bewohner von Mersin sind selbst Vertriebene, die in den 1990er Jahren vor dem Krieg zwischen der Armee und den kurdischen PKK-Rebellen in Ostanatolien an die Südküste flohen. "Wir wissen, wie das ist", sagt Asan, dessen Familie aus dem südosttürkischen Hakkari nach Mersin kam.

Einwohner beschweren sich über Flüchtlinge

Nicht allen Einwohnern der Stadt sind die Gäste aus dem benachbarten Bürgerkriegsland so willkommen. Der 28-jährige Bilal Salman etwa macht die Syrer dafür verantwortlich, dass er keinen Job bekommt. "Dass die Frauen und Kinder hier sind, kann ich ja noch verstehen", sagt er. "Aber die Männer? Die sollen dort bleiben und kämpfen."

Die Nachfrage durch die Syrer lässt die Wohnungsmieten steigen und drückt die Löhne. "Wir kommen einfach nicht miteinander klar", sagt Bilals Bruder Mazlum über Türken und Syrer. "Zum Beispiel essen die mit den Händen. Und außerdem sind sie schmutzig." Handwerker und Kleinhändler beklagen, dass Syrer eigene Geschäfte gründen, ohne Steuern und Abgaben zu bezahlen. Rund 200 türkische Geschäfte in Mersin sollen deshalb schon pleitegegangen sein.

Trotz aller Probleme werden sich die Türken in Mersin mit den Syrern arrangieren müssen. Die allermeisten wollen in der Türkei ausharren, bis der Krieg zu Hause vorbei ist. Nicht nur wegen des fehlenden Geldes wollen sie von Europa nichts wissen. "Was soll ich denn da? Meine Heimat ist Kobane", sagt Nasrin Muslim, eine 23-jährige Krankenschwester aus der nordsyrischen Stadt, die in einem Armeleute-Viertel in Mersin lebt.

Auch Aziz Alshekh, ein Student aus dem syrische Baniyas, der vor einem halben Jahr nach Mersin floh, würde "niemals" nach Europa weiterreisen. Er will zurück nach Syrien, auch wenn er sich nur schwer vorstellen kann, dass er in seinem Leben einmal richtig glücklich sein wird: "Meine Zukunft ist zerbrochen."

(RP)
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