Istanbul Türkische Frauen kehren Erdogan den Rücken

Istanbul · Die Aktion kurz vor der Parlamentswahl erzürnt den Staatspräsidenten. Er will das politische System des Landes grundlegend ändern.

In der Türkei stimmen die Wähler morgen nicht nur über ein neues Parlament ab, sondern auch über die Machtambitionen ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Der 61-Jährige hat in den vergangenen Jahren ein Gefüge aus Loyalitäten und Begünstigungen aufgebaut, das nur bei einem erneuten deutlichen Wahlsieg seiner Regierungspartei AKP weiterbestehen kann. Für viele Erdogan-Kritiker im Land ist die Wahl deshalb eine Gelegenheit, sein eigenes System aus den Angeln zu heben.

Bei vielen Wählern ist das Gefühl spürbar, dass Erdogan zu mächtig geworden ist. Die "Erdogan-Muss-Gestoppt-Werden"-Partei sei inzwischen die größte des Landes, sagt der Publizist Ates Ilyas Bassoy. Zudem sorgt ein Wahlkampfauftritt Erdogans im osttürkischen Igdir für Aufruhr. Dort begrüßte eine Gruppe Frauen den Präsidenten, indem sie ihm demonstrativ ihre Rückseite zukehrten und dabei das Victory-Zeichen machten. Eigentlich bloß eine von vielen kleinen Gesten der Ablehnung, die Politiker täglich zu sehen bekommen. Doch Erdogan provozierte der Protest der Frauen offenbar dermaßen, dass er ihn zum Thema seines Auftritts machte: "Wenn Sie nur ein Minimum an Freundlichkeit, Ehre und Kompetenz hätten, wäre das Parlament der Ort für Politik", wies er die Frauen zurecht.

Den Türkinnen reichte es dann offenbar: Frauen aus dem gesamten Land reagierten, indem sie sich von hinten fotografieren ließen und die Bilder ins Netz stellten. Im Kurznachrichtendienst Twitter posteten sie ihre Rückansichten unter dem Hashtag "SirtimiziDönüyoruz" - zu Deutsch: "Wir drehen unsere Rücken zu".

Erdogan, der 2003 als Ministerpräsident antrat und im August 2014 zum Präsidenten gewählt wurde, ist nicht zuletzt wegen der Erfolge seiner Wirtschaftspolitik zum politischen Superstar geworden. Zumindest in der ersten Phase seiner Ära brachten politische Reformen mehr Freiheitsrechte für alle.

Heute geht Erdogan rücksichtslos gegen angebliche oder tatsächliche politische Gegner vor. Er ließ 2013 die Gezi-Proteste zusammenknüppeln und würgte Korruptionsermittlungen gegen seine Regierung ab. In Ankara fußt das System Erdogan auf einem Netzwerk aus Abhängigkeiten und Loyalitäten, in dessen Zentrum er selbst steht. Der Präsident sieht sich als oberster Repräsentant des "nationalen Willens". Nominell unabhängige Institutionen wie der Richterrat, der über die Besetzung von Justiz-Posten entscheidet, sind mit Erdogan-Anhängern besetzt, Unternehmer wurden mit milliardenschweren öffentlichen Aufträgen auf Linie gebracht. Öffentliche Medien wie der Fernsehsender TRT oder die Nachrichtenagentur Anadolu verwandelten sich in Sprachrohre der Regierung.

Kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident bezog Erdogan einen protzigen neuen Palast, dessen Bau umgerechnet rund eine halbe Milliarde Euro kostete. Im Palast lässt Erdogan einen Trupp Wachsoldaten bei offiziellen Anlässen in historischen Kostümen antreten, die glorreiche Zeiten türkischer Reiche der Vergangenheit repräsentieren sollen. Kein Wunder, dass Kritiker dem Staatspräsidenten Sultans-Gehabe vorwerfen.

Im Wahlkampf wirbt Erdogan für eine Fortsetzung der AKP-Alleinregierung und um eine möglichst große Mehrheit im neuen Parlament, damit er die Verfassungsänderungen für sein geplantes Präsidialsystem durchsetzen kann. Mindestens 330 der 550 Sitze sind dafür erforderlich, doch den Umfragen zufolge liegt die AKP unterhalb dieser Marke. Mitentscheidend für den Wahlausgang ist das Abschneiden der Kurdenpartei HDP. Schafft sie den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament, kann Erdogan das Präsidialsystem erst einmal vergessen - und wäre am Ende wohl weniger mächtig als bisher.

(RP)
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