Türkische Opposition fürchtet Marsch in Gottesstaat

Istanbul Eigentlich wollte die türkische Regierung den Beginn des modernen Zeitalters in der Bildungspolitik feiern und ließ mehr als 10 000 Tablet-Computer an Schüler verteilen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ließ sich neben glücklich lächelnden Schülern fotografieren. Doch statt Feierstimmung kamen Zank und Streit auf. Mit einer Äußerung über das bildungspolitische Ziel einer "frommen Jugend" sorgte Erdogan für Aufregung. Gegner des Premiers sagen, nun habe der islamisch-konservative Regierungschef seine Maske fallengelassen und seine Islamisierungs-Ziele enthüllt.

Bei einer Versammlung seiner Regierungspartei AKP hatte Erdogan erklärt, seine Partei habe nicht vor, eine "atheistische Generation" großzuziehen, sondern halte sich an die konservativen Werte der Mehrheitsgesellschaft. Die seit fast zehn Jahren regierende AKP vertritt eine zunehmend wohlhabende islamisch-konservative Mittelschicht, die der traditionellen, säkularen Elite des Landes zunehmend den Führungsanspruch streitig macht. Der Premier wolle alle Türken mit einem "Frömmigkeits-Messgerät" prüfen, schimpfte die säkulare Oppositionspartei CHP. Zeitungskolumnisten warnten vor islamistischem Druck, der früher oder später in Alkoholverboten und anderen Zwängen enden könnte. Sie stellten die Frage, was der Regierungschef denn tun wolle, wenn jemand seine Kinder nicht religiös erziehen wolle.

Erdogan-Gegner vermuten seit langem, dass der Premier mit seinen politischen Reformen und der Entmachtung der Militärs nicht den Ausbau der Demokratie anstrebt, sondern den Marsch in den Gottesstaat. In der Bildungspolitik werfen Kritiker der Regierung vor, die von den Militärs vor 15 Jahren kaltgestellten religiösen Oberschulen rehabilitieren zu wollen. Erdogan selbst ist Absolvent einer solchen Predigerschule.

Vor diesem Hintergrund alarmiert Erdogans Lob für eine "fromme Jugend" einige religionsferne Kritiker der Regierung. Der Premier goss Öl ins Feuer, indem er seinen Kritikern vorwarf, junge Leute lieber als Drogenabhängige heranwachsen zu lassen, statt ihnen feste Moralvorstellungen zu vermitteln. Erdogan betonte aber auch, er respektiere jeden Lebensstil und wolle niemandem etwas aufzwingen. Darin unterscheide sich seine Regierung von den Säkularisten, die den Türken lange Jahre sehr wohl ein System aufgezwungen hätten – ein anti-islamisches System, in dem die Frommen ausgegrenzt worden seien. Als Beispiel nannte Erdogan das Kopftuchverbot an den Universitäten, das erst vor anderthalb Jahren abgeschafft wurde.

(RP)
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