Sidi Tunesiens Jugend wehrt sich gegen die Angst

Sidi · In dem von wirtschaftlichen Problemen und Terrorgefahr gebeutelten Land bilden sich immer mehr Bürgerinitiativen.

Bouzid/Sousse Über dem zentralen Platz von Sidi Bouzid schwebt auf einem acht Meter hohen Transparent wie ein Popstar der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, die Hände schicksalsergeben erhoben. Die Welt kennt ihn als Märtyrer und unfreiwilligen Auslöser einer Revolte. Doch viele Einheimische würden das Bild am liebsten abhängen: Für die jungen Leute vom Roten Halbmond, die unter Bouazizis traurigen Augen zwei Zelte für kostenlose ärztliche Untersuchungen aufbauen, ist er kein Held. Ganz im Gegenteil, findet Medizinstudentin Ferdaous Guizani (21): "Er hat seine Familie allein zurückgelassen. Und die Welt hält uns Tunesier für ein Volk von depressiven Selbstmördern und Terroristen. Das haben wir Verzweiflungstätern wie Bouazizi zu verdanken."

Nur eine Straßenecke entfernt verbrannte sich Bouazizi am 17. Dezember 2010. Eine Beamtin hatte ihn tags zuvor vom Marktplatz verjagt, nachdem er wiederholt Gemüse verkauft hatte, ohne Standgebühr zu zahlen. Die Ursache für seinen Suizid war Hoffnungslosigkeit. Doch der Auslöser der brutalen Selbsttötung war, dass eine Frau ihn vor den Augen der Öffentlichkeit geohrfeigt hatte - für ihn als Mann eine unerträgliche Demütigung. Die politischen Reformen, die danach in anderen arabischen Ländern in Bewegung kamen, wurden schnell wieder abgewürgt. Nur in Tunesien hat die Revolution einen Demokratisierungsprozess in Gang gesetzt, der bis heute anhält.

Die jungen Leute in Sidi Bouzid wollen "Teil der Lösung" sein. Dieser Slogan steht derzeit auf leuchtend blauen Armbändern an vielen Handgelenken in Tunesien. Er steht für die Sehnsucht nach sozialer Gemeinschaft jenseits von Clan-Denken und Korruption. "Wasser, Brot - und weg mit Ben Ali", dem Diktator, riefen die Demonstranten 2010 in den Straßen von Sidi Bouzid, später im ganzen Land. Auf Jobs und bessere Infrastruktur warten sie in der 40.000-Einwohner-Stadt mit 40 Prozent Arbeitslosenquote bis heute. Eine gefährdete Region, unter deren frustrierter arbeitsloser Jugend der "Islamische Staat" rekrutiert.

Ferdaous Guizani und die anderen Studentinnen packen an, statt zu lamentieren: Über 300 Menschen kommen an diesem Vormittag in die beiden Untersuchungs-Zelte, in denen sie mit Ärzten und Apothekern Blutzuckerwerte und Blutdruck messen, Kleinkinder untersuchen, Wunden versorgen. Daneben steht ein drittes Zelt, in dem drei junge Ingenieurinnen versuchen, einen Roboter zum Laufen zu bringen. Das gelingt ihnen zwar nicht, doch es geht vor allem darum, ein paar der herumlungernden Jugendlichen für den Ingenieurberuf zu interessieren. Eine der Frauen hat in Sidi Bouzid gerade eine Softwarefirma eröffnet. Es sind kleine, aber entschlossene Schritte, die vor allem junge Frauen hier tun.

Im örtlichen Jugendzentrum wird Bürgerradio gemacht und Kampfsport unterrichtet, es darf gerappt und gerockt werden, ohne dass sich jemand daran stört. Im Innenhof trinkt Ferdaous Tee mit dem Nachbarssohn Farouk Smari. Er hat als Blogger und Fotograf die Demonstrationen des Arabischen Frühlings begleitet und berichtet jetzt als Bürgerjournalist per Internet über die Aktivitäten der jungen Leute. Farouk und Ferdaous sind zusammen aufgewachsen. "Draußen dürften wir beide nicht zusammen in einem Café sitzen, ohne dass meine Mutter Besuch von strenggläubigen Nachbarn bekäme. Da muss sich noch einiges ändern", sagt Ferdaous.

Im Herzen der Medina der rund 170 Kilometer entfernten Küstenstadt Sousse läuft in einem Teehaus ein Workshop zu Gewalt im Alltag und Extremismus im öffentlichen Raum. Fares, Mouna, Nour versuchen, dem Terrorismus mit kreativen Mitteln die Stirn zu bieten. Im Jahr zuvor hatte Sousse weltweit in den Schlagzeilen gestanden: 38 Urlauber waren hier am Strand von einem Terroristen erschossen worden, der Badeort am Mittelmeer daraufhin vom Traumurlaubsziel zur No-Go-Zone abgesunken. Wie kratzt man das hässliche Etikett "Massenmord" von einer Stadt herunter? Vor allem, wenn der Täter ein junger Einheimischer, ein ehemaliger Hotelangestellter war? In einer über soziale Medien organisierten Aktionsgruppe "welovesousse" ("Wir lieben Sousse") starteten 60 junge Frauen und Männer den Versuch, Einheimischen und Touristen die Furcht vor neuen Attacken zu nehmen und sich das öffentliche Leben in ihrer Stadt zurückzuerobern.

Initiator Anis Boufrikha (37) hatte dafür mit viel Energie und Zuwendung junge Leute aus unterschiedlichen Berufen und Elternhäusern um sich geschart. Fürs sozialpolitische Netzwerken bezahlt ihn die schwedische Anna-Lindh-Stiftung. Doch Boufrikhas Antrieb kommt ganz tief aus seinem großen Herzen. Das Engagement seiner Schützlinge berührt ihn sichtlich: "Sie sind Träumer - und harte Arbeiter zugleich. Mit kaum etwas in den Händen, aber viel Optimismus und tollen Ideen wollen sie Tunesien voranbringen."

Die "weloves" tun weit mehr, als eine traumatisierte Stadt durch Kulturveranstaltungen wieder zu beleben: Sie besuchen Alte und Kranke, räumen Müll von den Straßen, spenden Schulausstattungen für Erstklässler, organisieren Workshops für Firmengründer. Wie in der konservativen Kleinstadt Sidi Bouzid stehen auch in Tunesiens drittgrößter Stadt Sousse immer wieder erstaunliche junge Frauen in vorderster Reihe: zum Beispiel Sabrine Ibrahim (25), die gerade ihre Ausbildung als Mechatronikerin abgeschlossen hat. Doch statt wie geplant in einer Autowerkstatt Geld zu verdienen, wurde sie Chefin eines dreiköpfigen Start ups, das interaktive Lehrmittel für Tunesiens Grundschulen entwickelt.

Zu den Aktivistinnen gehört auch Hanen Hrad (23), die ihren Lebensunterhalt als Beraterin für Marketing-Agenturen und als Rhetorik-Trainerin verdient. Hanen gründet Debattierclubs, in denen Meinungsunterschiede mit Worten ausgetragen werden und Toleranz geübt wird. "Nebenher" ist sie Generalsekretärin von "welovesousse" und für Konzerte und Künstlerbetreuung beim "Internationalen Musikfestival" in Sousse verantwortlich. Keinen geringeren als Raï-Superstar Cheb Khaled hat sie im Sommer persönlich betreut. Fast 1000 Touristen sangen gemeinsam mit den Tunesiern im Amphitheater Khaleds Hit "Aicha". Übrigens ein Lied, in dem eine Frau zu ihrem Verehrer sagt: "Behalte Deine Juwelen, ich will die gleichen Rechte wie Du - und Respekt an jedem Tag."

Mit "Bab el Bahr" (Tor zum Meer), ihrem zweitägigen Musik- und Kultur-Festival, bevölkerten die jungen Organisatoren die Strandpromenade von Sousse erstmals wieder bis tief in die Nacht mit fröhlichen Familien. Dafür haben sie monatelang hart und unentgeltlich gearbeitet. Im Teehaus am Morgen danach mischen sich Stolz und Trotz in Bouzemis Resümee: "Wir hören weiter Musik, lachen und haben auch Spaß. Damit hören wir nicht auf, nur weil Terroristen unser Leben stilllegen wollen. Durch unser Festival konnten wir zeigen, dass wir trotz der Ereignisse stark bleiben und dass unser Leben weitergeht."

Der Schöpfer dieser jungen Genmeinschaft von Aktivisten in Sousse, Anis Boufrikha, hält sich bescheiden im Hintergrund. Sein "welove"-Konzept könnte zur Blaupause für den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Tunesien werden. In vier weiteren tunesischen Städten gibt es mittlerweile ebenfalls "welove"-Gruppen. "Irgendwann wachsen sie zu einer landesweiten Gemeinschaft zusammen, von innen heraus, nicht als aufgepfropfte PR-Kampagne", hofft Boufrikha.

(RP)
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