Tunis Tunesiens Wähler sind ratlos

Tunis · Noch vor wenigen Monaten war im "neuen Tunesien" die Hoffnung groß. Das Land bekam eine moderne Verfassung: Glaubens- und Gewissensfreiheit, Gleichstellung von Mann und Frau - einzigartig in der arabischen Welt. Im Fernsehen lief eine Quizshow, in der die einzelnen Paragrafen vorgestellt wurden. Und wer es genau nachlesen wollte, konnte im Supermarkt ein Exemplar der Verfassung kaufen, in französischer und in arabischer Sprache.

Tunesien, das nordafrikanische Land mit elf Millionen Einwohnern, schien nach dem Arabischen Frühling und dem Sturz von Zine el Abidine Ben Ali 2011 auf einem guten Weg. Seitdem aber ist nicht mehr viel passiert. Das Land steht still und die Menschen resignieren.

Im ersten Halbjahr 2014 gab es landesweit mehr als 9000 Sitzstreiks und Arbeitsniederlegungen. Mindestens 15,5 Prozent der Tunesier leben unter der Armutsgrenze, die Zahl der Straßenkinder liegt zwischen 5000 und 8000. Die Währung ist unter Druck. Und weil die Verwaltung nicht funktioniert, entstehen an jeder Ecke der Hauptstadt provisorische Müllhalden.

Nun stehen in Tunesien Wahlen an, im Oktober das Parlament, einen Monat später der Präsident. Doch die Menschen glauben nicht mehr daran, dass sie etwas ändern werden. "Momentan neigen viele dazu, die Abstimmungen zu boykottieren", sagt Ahmed al Gharairy, ein 24-jähriger Medizinstudent aus Tunis. Er habe weder von einem konkreten Parteiprogramm gehört noch kenne er die Ziele der Kandidaten. "Kein Politiker kann deshalb von uns verlangen, dass wir ihm das Recht geben, im Namen des Volkes zu sprechen." Inzwischen haben sich immerhin mehr als fünf Millionen Menschen als Wähler registrieren lassen - von insgesamt acht Millionen Wahlberechtigten.

Viele Menschen würden prinzipiell schon gerne wählen, doch sie wissen nicht wen. Von mehreren Dutzend Parteien gibt es bislang nur zwei, die eine reelle Chance haben: die islamistische Ennahda und die weltlich ausgerichtete Neugründung Nidaa Tounes. Die Islamisten hatten die ersten freien Wahlen 2011 gewonnen, regierten auch, wurden vor einem Jahr aber vom Volk aus dem Amt gejagt. Die Menschen waren wütend, weil binnen sechs Monaten zwei Oppositionspolitiker ermordet wurden - mutmaßlich von religiösen Fanatikern. Seitdem wird Tunesien von Technokraten regiert.

Sowohl Führungsmitglieder von Nidaa Tounes als auch von Ennahda haben bereits zu verstehen gegeben, dass sie nichts gegen eine Fortsetzung dieser Expertenregierung einzuwenden hätten. Sie haben offenbar Angst vor den anstehenden Aufgaben. Das Land ist in einem dramatischen wirtschaftlichen Zustand und niemand traut sich an Reformen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) mahnt seit langem, die zahlreichen Subventionen zu kürzen, mit denen die Preise für Benzin, Strom, Speiseöl oder Brot niedrig gehalten werden. Dann aber drohen soziale Unruhen.

(dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort