Kundus Über Kundus weht die Flagge der Taliban

Kundus · Vor zwei Jahren zog die Bundeswehr ab. Jetzt bricht die staatliche Autorität in Nordafghanistan zusammen.

Fast genau zwei Jahre ist es her, dass die Bundeswehr ihren Einsatz in der nordafghanischen Provinz Kundus beendete. Bald darauf zogen die Soldaten aus dem Feldlager am Rande der Stadt ab, obwohl die Sicherheitslage schon damals bedenklich war. Seitdem hat sich die Lage weiter verschlechtert. Gestern eroberten die Taliban die Stadt in einer Überraschungsoffensive - Kundus fiel als erste Provinzhauptstadt in Afghanistan an die radikalislamischen Aufständischen. Bereits am Mittag hissten die Taliban ihre Flagge auf dem Marktplatz; am Abend gab die Regierung in Kabul zu, die Stadt sei gefallen, und kündigte eine Gegenoffensive an.

Schon vor dem Taliban-Angriff waren die Entwicklungen in der Provinz alarmierend. Im Juni waren die Taliban bis an den Stadtrand vorgedrungen. Ebenfalls im Juni hatten die Taliban einen Provinzdistrikt erobert; die anderen sechs Distrikte rund um die Stadt sind umkämpft. Damals hätten die Aufständischen auch bis zu 30 teils gepanzerte Kampffahrzeuge vom Typ "Humvee" erbeutet, sagt ein afghanischer Regierungsmitarbeiter. Mit den "Humvees" hatten die USA die afghanischen Sicherheitskräfte ausgerüstet.

Der Regierungsmitarbeiter sagte noch vor der Offensive gegen Kundus-Stadt, man glaube, dass inzwischen 80 Prozent der Provinz unter Kontrolle der Taliban seien: "Die Taliban haben inzwischen eine eigene Schnelle Eingreiftruppe mit 600 Mann in Kundus und sind sehr gut ausgerüstet." Diese Eingreiftruppe - eine solche Einheit unterhalten eigentlich nur hochprofessionelle Armeen - trete bei Gefechten an Brennpunkten in Erscheinung.

Gestern griffen die Taliban die Stadt gleich aus mehreren Richtungen an; schnell gelang es ihnen, Regierungsgebäude zu stürmen. Darunter war auch das Provinz-Krankenhaus mit seinen 200 Betten, das mit deutscher Hilfe saniert worden war. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid drohte über den Kurznachrichtendienst Twitter, in dem Krankenhaus suchten Taliban-Kämpfer nun nach "verwundeten feindlichen Soldaten". Man rücke jetzt in Richtung Flughafen vor, teilte ein Kommandeur mit.

Ein afghanischer Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation, der nicht namentlich genannt werden wollte, sagte am Telefon: "Wir verstecken uns im Bad. Wir haben alle große Angst. Wir hören Schüsse rund 50 Meter entfernt von uns. Raketen fliegen durch die Gegend, und wir können Hubschrauber hören, die auf die Taliban schießen. Alle Ausländer sind zum Flughafen. Die einzigen, die noch hier sind, sind die Einheimischen." Ein westlicher Mitarbeiter einer Hilfsorganisation sagte, mehrere Ausländer seien am Flughafen versammelt.

Ein solches Horrorszenario hätte sich niemand vorstellen können, als die Bundeswehr ihren Einsatz in Kundus 2003 begann. Damals war die Provinz eine der sichersten im Land, der Standort wurde unter Soldaten als "Bad Kundus" verspottet. Doch im Laufe der Jahre verschlechterte sich die Lage massiv.

Die Bundeswehr unterhält weiterhin ein Feldlager mit 600 Soldaten in der rund 150 Kilometer Luftlinie entfernten Provinzhauptstadt Masar-i-Scharif. Der Kampfeinsatz der Bundeswehr und der Nato im Land lief Ende 2014 aus, weil vor allem die USA darauf drangen.

(dpa)
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