Analyse Unmut über deutsche Exportstärke

Brüssel/Berlin · Die EU-Kommission rügt die hohen Außenhandelsüberschüsse und ermahnt Deutschland, seine Nachfrage im Inland anzukurbeln. Als erster Bundeswirtschaftsminister zeigt Sigmar Gabriel Verständnis für diese Kritik – zu Recht?

Die EU-Kommission rügt die hohen Außenhandelsüberschüsse und ermahnt Deutschland, seine Nachfrage im Inland anzukurbeln. Als erster Bundeswirtschaftsminister zeigt Sigmar Gabriel Verständnis für diese Kritik — zu Recht?

Wirtschaftspolitische Ratschläge aus Brüssel kommen in den europäischen Hauptstädten selten gut an. Auch Berlin reagiert stets empfindlich. Also garnierte EU-Wirtschaftskommissar Olli Rehn seine Kritik am hohen deutschen Exportüberschuss gestern mit warmen Worten. "Niemand möchte Deutschland dafür kritisieren, dass es nach außen hin im Export gut da steht", sagte Rehn liebenswürdig. Im Gegenteil, er wünsche sich, dass jedes EU-Land so wettbewerbsfähig werde wie der Exportweltmeister. Doch dann machte Rehn seinen Punkt: "Aber Deutschland täte gut daran, die Binneninvestitionen und die Binnennachfrage zu stärken." Eine Korrektur des enormen deutschen Ungleichgewichts im Außenhandel sei notwendig. Im Juni will die Kommission Empfehlungen zur wirtschaftspolitischen Kurskorrektur aussprechen — auch Strafen wären möglich, wenngleich unwahrscheinlich.

Warum kritisiert Brüssel die deutsche Exportstärke überhaupt?

Das starke Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Länder war aus Sicht der EU-Kommission und auch vieler anderer Ökonomen eine wesentliche Ursache der europäischen Schuldenkrise: Deutschland habe durch extreme Lohnzurückhaltung seit den 90er Jahren seine preisliche, aber immer auch seine produktbezogene Wettbewerbsfähigkeit so sehr gesteigert, dass für Konkurrenten in anderen EU-Ländern kaum Aufholchancen bestanden, so die Analyse. Vor allem die Südeuropäer hätten sich auch infolge der für sie zu günstigen Kredite immer mehr verschuldet, um deutsche Produkte zu kaufen. So wurden die EU-Handelspartner von Deutschland einerseits an die Wand gedrückt, andererseits trugen sie auch selbst maßgeblich zur Krise bei — indem sie wichtige Strukturreformen verschliefen und sich völlig verantwortungslos verschuldeten. Künftig wollen die Euro-Länder verhindern, dass Ungleichgewichte zwischen ihnen wieder so stark werden, dass es erneut zu einer Krise kommt. Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten daher die Kommission mit der regelmäßigen Überprüfung der volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte beauftragt. Neben Deutschland nahm Rehn auch 15 weitere Länder unter die Lupe, darunter Italien, Frankreich und Spanien.

Wie hoch ist der deutsche Exportüberschuss genau?

Deutschland hat 2013 Waren im Wert von 199 Milliarden Euro mehr exportiert als importiert. Das war der größte Exportüberschuss der deutschen Geschichte — und auch der größte Überschuss weltweit. Auch die Leistungsbilanz, die neben dem Warenaustausch mit dem Ausland den Handel mit Dienstleistungen enthält, lag 2013 mit 201 Milliarden Euro im Plus — das waren noch einmal vier Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Der deutsche Leistungsbilanzsaldo — die Differenz zwischen dem Wert der Ausfuhren und Übertragungen ins Ausland und dem der Einfuhren — ist laut einer internen Analyse des Bundeswirtschaftsministeriums, die unserer Zeitung vorliegt, zwischen 2000 und 2012 um 8,8 Prozentpunkte gestiegen. Allerdings entfielen davon nur 3,7 Punkte auf die reine Handelsbilanz und damit auf eine Steigerung der Exportüberschüsse. Deutsche Exporteure hätten in den zwölf Jahren zudem umgesteuert und sich stärker auf Wachstumsmärkte in Schwellenländern konzentriert, weniger auf die Eurozone (siehe Grafik).

Warum ist Deutschland im Außenhandel so stark?

Die Lohnstückkosten stiegen in Deutschland über viele Jahre deutlich langsamer als in den meisten anderen Ländern. Daran hatte die moderate Lohnpolitik der Tarifpartner maßgeblichen Anteil. Zudem sorgten Reformen für geringe Zuwächse und sogar Senkungen bei den Lohnzusatzkosten, etwa bei den Beiträgen zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Die EU-Kommission hatte zudem bereits 2012 festgestellt, dass weniger die preisliche Wettbewerbsfähigkeit — also günstigere Preise für deutsche Produkte gegenüber den Preisen der Konkurrenz — für den Erfolg von "Made in Germany" verantwortlich ist. "Traditionelle Faktoren wie die Qualität deutscher Investitionsgüter und die Präsenz auf Wachstumsmärkten, aber auch die zunehmende Serviceorientierung, Innovationskraft und Flexibilität deutscher Unternehmen" trügen heute viel mehr zum deutschen Erfolg bei, heißt es auch in der Analyse des Wirtschaftsministeriums.

Was sagt Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel zu der EU-Kritik?

Gabriel schlägt in dem internen Papier aus seinem Hause andere Töne an als seine Vorgänger, die jede Kritik am deutschen Exportmodell stets zurückgewiesen hatten: "Exzessive und schädliche Ungleichgewichte sind schädlich für die Stabilität der Eurozone." Deutschland verfolge eine "Doppelstrategie": Einerseits wolle die Regierung die starke deutsche Wettbewerbsfähigkeit sichern. Gleichzeitig wolle sie "die staatlichen Investitionen und die binnenwirtschaftlichen Wachstumskräfte stärken und damit zum Abbau der Ungleichgewichte beitragen". Die deutsche Investitionsquote sei im internationalen Vergleich zu niedrig, mahnt er im Sinne von EU-Kommissar Rehn.

Was will Gabriel künftig ändern?

Der Staat soll selbst mehr investieren, etwa in Straßen und Schulen — insgesamt 23 Milliarden Euro mehr in dieser Legislaturperiode. Auch private Investitionen will Gabriel ankurbeln, verordnen kann er dies den Unternehmen allerdings nicht. Auch soll der gesetzliche Mindestlohn die Binnennachfrage stärken. Zudem, so argumentiert der Minister, werde der hohe Exportüberschuss demografiebedingt in den kommenden Jahrzehnten ohnehin abgebaut: Weil die Deutschen altern, würden sie künftig weniger sparen — und dafür mehr Geld auch in Importprodukte stecken.

(mar)
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