Gesellschaftskunde Viele Menschen glauben, für Nachsicht keine Zeit zu haben. Sie verpassen etwas.

Diese ganze Hast der Gegenwart sorgt ja nicht nur für Gefühle der Überforderung bei vielen Menschen. Sie macht auch aggressiv. War das Rheinland lange eine Region, in der Menschen im öffentlichen Raum einander zumindest gelassen begegneten, oft auch ein Schwätzchen riskierten beim Anstehen an der Kasse, beim Warten an der Bushaltestelle oder einfach so im Vorbeigehen, wenn sich nur irgendein Anlass zum Drauflosreden fand. Doch solche Erlebnisse werden seltener. Kaum einer wagt noch, ein bisschen unschuldige Zeit vom anderen zu stehlen. Ungeduld ist in die Menschen gefahren. Und erzeugt Wutblasen, die jederzeit aufplatzen können, wenn Kassen im Supermarkt nicht schnell genug geöffnet werden. Oder einer zu langsam fährt, weil er auf Parkplatzsuche ist. Oder die eigenen Kinder mal wieder in ihrer eigenen Welt verloren sind und einfach nicht voranmachen.

Ein Mittel, diese innere Drängelei auszubremsen, ist Behutsamkeit. Das ist eine altmodische Art der Vorsicht anderen Menschen und auch den Dingen gegenüber. Sie stammt noch aus der Zeit vor der entfesselten Konsumgesellschaft, als kaufen und wegwerfen noch nicht eins waren. Als man neue Dinge noch vorführte, ausgiebig betrachtete, wertschätzte. Und dann behutsam mit ihnen umging. Und als man sich noch nicht alles und jedes auf den Kopf zusagte, in der Öffentlichkeit nicht pöbelte, darauf achtete, was man anderen zumutete.

Natürlich war damals auch nicht alles besser. Aggressionen gedeihen auch hinter Fassaden der Höflichkeit und brechen dann um so vernichtender hervor. Doch ist es auch gefährlich, wenn eine Gegenwart so schnell und fahrig wird, dass Behutsamkeit wie Schwäche wirkt - wenn die meisten glauben, sich Nachsicht nicht leisten zu können. Denn mit der Behutsamkeit verfliegt auch die Schönheit, weil Menschen fehlen, die sie noch sehen können.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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