Analyse Vollbeschäftigung ist keine Utopie

Düsseldorf · Die Bundesagentur für Arbeit verkündet Monat für Monat neue Rekorde bei der Beschäftigung. Doch wie realistisch ist ein Zustand, in dem jeder Erwerbsfähige arbeitet? Und welche Risiken birgt eine solche Situation?

Die 60er Jahre: Krieg, Not und Hunger gehören der Vergangenheit an, die Wirtschaft brummt. Bescheidener Wohlstand hat in die westdeutschen Wohnstuben Einzug gehalten. Bei der noch jungen Bundesanstalt für Arbeit verzeichnen die Statistiker traumhafte Zahlen: Gerade einmal 150.000 Arbeitslose zählt die Behörde im Mai 1960. Es herrscht Vollbeschäftigung.

Wer ein gutes halbes Jahrhundert später die Arbeitsmarktberichterstattung verfolgt, bekommt den Eindruck, dass sich Deutschland wieder auf bestem Wege in diese Richtung befindet.

Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff "Vollbeschäftigung", und ist es tatsächlich ein erstrebenswerter Zustand? Wer es sich einfach macht, könnte sagen, Vollbeschäftigung ist erreicht, wenn jeder im erwerbsfähigen Alter arbeitet. Allerdings verkennt diese Definition eine zentrale Aufgabe des Arbeitsmarkts: Er dient dazu, Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot zusammenzubringen. "Matching" nennen das die Fachleute. Insofern ist eine gewisse Sucharbeitslosigkeit in Ordnung, denn einen guten "Match" zu finden, braucht Zeit. Zudem gibt es Menschen, die nicht arbeiten wollen - etwa, weil sie sich mit Transferleistungen begnügen.

Der Wirtschaftsnobelpreisträger John Maynard Keynes nahm deshalb eine Präzisierung vor. Für ihn galt Vollbeschäftigung in dem Moment, in dem jeder, der arbeiten möchte, auch einen Job hat. Der britische Baron William Henry Beveridge wiederum erklärte, Vollbeschäftigung herrsche, wenn die Zahl der Arbeitslosen der Zahl der unbesetzten Stellen entspreche.

Nach den Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dem wissenschaftlichen Arm der Bundesagentur für Arbeit, ist Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote zwischen zwei und drei Prozent erreicht. Doch dieser Wert ist umstritten. "In der monatlichen Arbeitslosenstatistik werden einige Menschen, die arbeitslos sind, gar nicht als solche erfasst", sagt Roland Döhrn, Konjunkturexperte am Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. Das liege daran, dass sie sich beispielsweise in einer Weiterbildungsmaßnahme befinden. "Zudem gibt es auch Regionen, in denen die Lage derart ungünstig ist, dass jemand, der keine Chance auf einen Job oder Arbeitslosengeld hat, sich auch nicht bei der Agentur meldet." Wer sich nicht meldet, taucht nicht in der Statistik auf. Andersherum wird auch als arbeitslos gewertet, wer weniger als 15 Stunden arbeitet, aber gerne mehr tun würde.

Nimmt man trotz der statistischen Schwächen die IAB-Definition, so gilt: "In einzelnen Landkreisen in Süddeutschland kann man tatsächlich schon heute von Vollbeschäftigung sprechen, in der Fläche allerdings noch nicht." Das sagt Enzo Weber, Professor für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Regensburg und zugleich Forschungsbereichsleiter am IAB. "Vollbeschäftigung in Deutschland ist keine Utopie, sie ist auf jeden Fall möglich - allerdings werden wir diesen Zustand nicht mehr in diesem Jahrzehnt erreichen, aber im nächsten ist das durchaus denkbar."

Auch Alexander Herzog-Stein, Referatsleiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, sieht in der Vollbeschäftigung keinen unerreichbaren, sondern einen möglichen Zustand. Ist er tatsächlich einmal erreicht, bestehen neue Gefahren - etwa die, dass Entscheidungsträger in ihren Anstrengungen nachlassen. "Gerade das sollten sie nicht tun", sagt Herzog-Stein. In Zeiten niedriger Arbeitslosigkeit änderten sich allenfalls die Fragestellungen. "Dann gibt es die angenehme Situation, dass sich die Gesellschaft stärker mit der Frage auseinandersetzen kann, wie etwa Langzeitarbeitslose besser in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können." Außerdem könne sich die Gesellschaft stärker die Qualität der Arbeit anschauen - und sie gegebenenfalls verbessern, so der IMK-Experte.

Vollbeschäftigung lasse sich immer aus zwei Perspektiven betrachten, so IAB-Ökonom Weber. "Aus Sicht der Arbeitnehmer ist sie natürlich ein wünschenswerter Zustand. Damit aus Sicht der Arbeitgeber Vollbeschäftigung herrscht, müssten die Unternehmen ihr Kapital vollständig einsetzen und könnten zugleich ihre Stellen ohne größere Probleme besetzen." Das ist offensichtlich schwierig, wenn Arbeitskräfte knapp werden. Schon heute ist das Risiko, entlassen zu werden, auf einem Rekordtief. Den Firmen ist sehr daran gelegen, die Fachkräfte zu halten. Denn es wird zunehmend schwieriger und dauert dadurch länger, eine vakante Stelle zu besetzen. In einzelnen Regionen könne das zu Problemen führen. "Branchen, die auf eine bestimmte Menge von Arbeitskräften angewiesen sind, also zum Beispiel die sogenannten Cluster, bekommen bei einer extremen Verknappung natürlich Probleme. Das kann dann sogar so weit gehen, dass Cluster auseinanderbrechen", sagt Weber.

"Wenn tatsächlich Vollbeschäftigung herrscht, kann dies ein Zeichen dafür sein, dass das Wachstum an seine Grenzen stößt und eine Überhitzung unmittelbar bevorsteht", sagt RWI-Ökonom Döhrn. "So weit sind wir aber noch lange nicht. Wir haben natürlich einen sehr hohen Beschäftigungsstand, zugleich bewegt sich aber beim Lohn- und Preisniveau alles im grünen Bereich." Durch die permanente Zuwanderung und weitere stille Reserven lasse sich der Fachkräftebedarf derzeit mit Ausnahme einiger Branchen noch decken. "Und dass demnächst massenhaft Arbeitslosigkeit droht, weil die Digitalisierung voranschreitet, halte ich auch für überzogene Schwarzmalerei", sagt Döhrn. Ähnlichen Alarmismus habe es auch bei der Einführung der Dampfmaschine oder des Automobils gegeben - und beides habe nicht etwa zu Massenentlassungen, sondern zu einer Veränderung der Anforderungsprofile geführt.

(maxi)
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