Kolumne Gesellschaftskunde Von Bartleby dem Schreiber lernen

Die Figur aus einer Erzählung von Herman Melville verweigert sich den Verhältnissen mit dem ironisch-höflichen Satz: "Ich möchte lieber nicht." Damit liefert er auch eine Formel für die Gegenwart.

Kolumne Gesellschaftskunde: Von Bartleby dem Schreiber lernen
Foto: Phil Ninh

Manchmal nehmen Künstler Preise nicht entgegen. Woody Allen etwa hat nicht alle seine Oscars persönlich abgeholt, weil ihm die Geschäftemacherei in Hollywood missfällt. Manche Künstler wollen auch gar nicht erst für einen Preis infrage kommen, so wie der Schriftsteller Ralf Rothmann, der sich gerade von der Bewerberliste für den Deutschen Buchpreis hat streichen lassen. Sein Verlag übermittelte die knappe Begründung: "Er möchte lieber nicht."

Der Satz ist bemerkenswert, weil er ein Zitat ist: Bartleby der Schreiber spricht ihn in der gleichnamigen Erzählung von Moby-Dick-Autor Herman Melville. Bartleby ist ein stiller, fleißiger Kopist in einem Büro an der Wall Street. Tagein, tagaus schreibt er Verträge ab, doch andere Aufgaben verweigert er mit dieser höflichen Formel: "I would prefer not to". Bald stellt er auch das Verträgeschreiben ein und das Essen, und irgendwann ist aus der höflichen Zurücknahme der radikale Ausstieg aus dem Leben geworden.

Mit Melvilles Erzählung beginnt eine moderne Form des Erzählens, die Kafka vollenden sollte. Sie ist nüchtern, geradlinig, kunstvoll in ihrer Verknappung, ironisch in ihrer Präzision - und dabei unendlich traurig, weil ihr Ton von der Verlassenheit und Ernüchterung des modernen Menschen kündet. "Ich möchte lieber nicht" - das ist Rückzug, keine Rebellion. Das Ich hat die Verhältnisse durchschaut und hält Widerstand für zwecklos. Die selbstbestimmte Verweigerung ist die einzige Reaktion, die ihm ermöglicht, in einer sinnentleerten Welt Würde zu bewahren. Darum ist Bartlebys Satz in Wahrheit sehr machtvoll.

Und nun wendet ihn ein Künstler an, der sich der Vermarktungsmaschinerie unserer Tage entziehen will. Denn wenn Preise in Form von Wettbewerben vergeben werden, "Longlists" und "Shortlists" Auskunft geben über den Stand des Rennens, dann soll das Aufmerksamkeit erzeugen. Das ist gut, weil es Literatur ins Gespräch bringt. Allerdings können Romane in Wahrheit ja nicht "ins Rennen" gehen. Das ist ja gerade eine der Leistungen von Kunst, dass sie sich der Konkurrenzlogik entzieht, ein Freiraum ist für das Spiel mit Sprache, für die Analyse ohne Kalkül oder was auch immer Autoren in die Feder fließt. Doch natürlich leben und arbeiten sie nicht im leeren Raum, auch ihre Arbeit steht unter dem Diktat des Marktes, und so muss man schon ein Verweigerer wie Bartleby sein, will man diesen Zwängen entfliehen.

Einer wie Rothmann kann es versuchen, er ist bekannt genug. Andere können sich mediale Abstinenz kaum leisten, sie setzen sich den Mechanismen des Marktes aus und hoffen auf Ruhm. Doch auch das Mitmachen hat einen Preis - es verändert den Menschen. Es ist gut, sich das bewusst zu machen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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