Kolumne Gesellschaftskunde Von der Tamagotchisierung unserer Technikwelt

Erinnert sich noch jemand an die elektronischen Plastikeier aus Japan, die ständig gefüttert und gehätschelt werden wollten, weil sonst ihr virtueller Tod drohte? In den 90er Jahren wurden Tamagotchis populär, und eine ganze Generation von Kindern fand Vergnügen darin, das künstliche Haustier zu umsorgen, elterliche Gefühle zu hegen und den Exitus auf dem Display zu verhindern. Alle anderen bestaunten das Phänomen, dass sich Menschen von einem piependen Minigerät zu Fürsorge verdammen ließen und völlig sinnfrei ihre Lebenszeit verschwendeten.

Wer in jüngster Zeit ein beliebiges Elektronikgerät erstanden hat, könnte sich erinnert fühlen. DVD-Player, Musikanlagen, Mobiltelefone, Kameras – Apparate können immer mehr, lassen sich immer differenzierter auf die Bedürfnisse ihrer Besitzer einstellen, vernetzen sich via Internet. Doch um in den Genuss all dieser Möglichkeiten zu kommen, ist der Besitzer genötigt, immer mehr Zeit in das Studium der Gebrauchsanleitung zu investieren. Er muss sich durch Menüs klicken, Erklärparcours absolvieren, bald Hilfeforen im Internet konsultieren, in denen Menschen sich austauschen wie in Selbsthilfegruppen. Und am Ende muss er entnervt einen Teenager aus der Nachbarschaft bitten, sein Herrschaftswissen im Umgang mit dem Elektronikzeug zu teilen. Wie Tamagotchis fordern neue Geräte unsere Zeit, wollen im Detail verstanden und nach ihren Regeln bedient werden.

Nun ist Fortschritt etwas Gutes. Und natürlich hat niemand etwas gegen Erfindungen, die das Leben leichter, gesünder oder auch nur unterhaltsamer machen. Doch vieles, was Hersteller als Innovation anpreisen, ist in Wahrheit nur Pseudo-Erfindung – komplizierter als das Vorgängermodell, keineswegs besser. Auch werden die Verbraucher überschüttet mit Sonderfunktionen, die sie zuvor gar nicht vermisst haben. Also auch nicht brauchen.

Doch der Konkurrenzdruck unter Herstellern, die sich mit vermeintlichen Innovationen zu überbieten versuchen, sorgt dafür, dass moderne Gebrauchsgegenstände immer komplizierter werden. So schreitet die Tamagotchisierung der Lebenswelt voran, und der Verbraucher ist verdammt, Funktionen zu bedienen, die er gar nicht haben wollte. Dagegen hilft nur Umdenken. Und die Marktmacht von Verbrauchern, die sich keinen falschen Fortschritt mehr andrehen lassen. Das mit den Tamagotchis hat sich schließlich auch erledigt.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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