Düsseldorf Vor der Abschottung
Düsseldorf · Werden Schottland und Nordirland das Vereinigte Königreich verlassen und sich der Europäischen Union anschließen?
Der Entschluss der Briten, die Europäische Union demnächst zu verlassen, hat das Inselreich tief gespalten. Doch mit der Abwicklung der Scheidungsmodalitäten ist es nicht getan. Großbritannien, das dem Kontinent den Rücken kehrt und stattdessen auf insulare Schrebergartenruhe fern aller Brüsseler Streitereien und unerwünschter politischer Einflussnahme setzt, droht die Zerreißprobe. Die Einheit des Königreiches steht auf dem Spiel. Ganze Landesteile sehen dagegen ihre Zukunft weiter in der Europäischen Union. Sie wollen von einem Brexit nichts wissen, weil sie Renationalisierungsbestrebungen ihrer Zentralregierung in London angesichts der zunehmenden weltweiten Herausforderungen als Rückschritt empfinden. Droht nun aus Großbritannien ein Kleinbritannien zu werden? Die Gefahr ist groß und ein Alptraum für die Regierung in London.
Nicola Sturgeon, Chefin der Regionalregierung in Schottland, erklärte am Wochenende nach einer Sitzung ihrer Regierung in Edingburgh, "ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist ganz klar eine Option, die auf den Tisch muss und sie ist sehr präsent auf dem Tisch."
Nach der Brexit-Entscheidung am vergangenen Donnerstag hatte die "Sunday Post" in einer Umfrage ermittelt, das sich 59 Prozent der Schotten nun für eine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich aussprechen. In einem Referendum im September 2014 hatten sich die Schotten mit 55 Prozent noch gegen die Abspaltung entschieden. Sturgeon kündigte für die nächsten Tage direkte Gespräche mit der EU in Brüssel an. Ihre Aufgabe sei nun, herauszufinden, "wie ich die Interessen Schottlands am besten schützen kann, wie ich verhindern kann, dass wir gegen unseren Willen aus der EU ausgeschlossen werden", so die schottische Regierungschefin.
Doch die Unabhängigkeit Schottlands ist nicht mit einer einfachen Willenserklärung der Regionalregierung zu erreichen. Ein zweites Referendum muss her und vom schottischen Parlament beschlossen werden. Die schottischen Grünen haben schon Zustimmung zu dem Schritt angedeutet. Eine Volksabstimmung sei ganz klar eine Option. Es sei aber noch zu früh, über ein Ob oder ein Wann zu entscheiden, sagte ein Parteisprecher am Wochenende in der schottischen Hauptstadt. Damit ein Referendum rechtlich bindend ist, müsste auch das britische Parlament in London dem Begehren zustimmen. So war es auch beim ersten Referendum 2014. Sollte London aber nein sagen, könnten die Schotten womöglich auf eigene Faust abstimmen und hoffen, dass London am Ende das Ergebnis hinnehmen müsste. Doch dieser Weg würde mit Sicherheit für politischen Streit bis hin zum dauerhaften Zerwürfnis sorgen.
Danach liegen die Karten bei der EU in Brüssel auf dem Tisch. Schottland müsste als neues EU-Mitglied aufgenommen werden. Die Verhandlungen könnten schnell abgewickelt werden, denn alle Rahmenbedingungen für eine Mitgliedschaft hat es bereits heute als Teil Großbritanniens erfüllt. Schwierigkeiten kann es geben, wenn sich EU-Länder mit eigenen Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Regionen (Spanien: Baskenland oder Katalonien) quer stellen. Doch derartige Bedenken könnten ausgeräumt werden, weil Großbritannien als Staat dann die EU bereits auf eigenen Wunsch verlassen hat und Konflikte mit dem einst eigenen "Mutterland" ausgeschlossen sind.
Anders und viel komplizierter ist der Fall Nordirland. Wie Schottland hat auch dieser Teil des Vereinigten Königreiches in hohem Maße von EU-Geldern für seine Entwicklung profitiert. Insofern liegt es auf der Hand, dass sich die Mehrheit der Nordiren (55,8 Prozent) für einen Verbleib in der EU aussprach. Doch auch diese Zahl spiegelt nicht die ganze politische Problematik des Inselteils wider. Die Katholiken stimmten mehrheitlich für einen Verbleib bei der EU, die Protestanten stimmten für den Brexit. Das bedeutet, der Ausgang des Referendums birgt genug Sprengstoff in sich, um den für überwunden geglaubten Bürgerkrieg zwischen den Glaubensrichtungen wieder aufflammen zu lassen. Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses über einen Brexit forderte das Mitglied des Landesvorstandes der katholischen pro-irischen Sinn Fein, Declan Kearney, ebenfalls (wie die Schotten) eine "Grenzabstimmung" darüber, zu welchem Land Nordirland künftig gehören wolle. Sinn-Fein-Mann Martin McGuinness, stellvertretender Regierungschef des Landes, schloss sich dieser Meinung an. Und er spitzte zu, es gehe um nichts geringeres als um die Frage eines Verbleibes im Vereinigten Königreich oder der Wiedervereinigung mit der Republik Irland. Und was sagt die Regierungschefin und Führerin der protestantischen Democratic Unionist Party, Arlene Foster, zu den Wiedervereinigungsplänen ihres Stellvertreters? Sie lehnt sie kategorisch ab.
Das mag zum jetzigen Zeitpunkt klug sein, um nicht neue Spannungen anzuheizen. Ein Debattenende wird das aber nicht sein. Katholiken und Protestanten bilden als ehemalige Bürgerkriegsparteien eine gemeinsame Regierung. Der Krieg, mit Terror auf der einen Seite und brutalem Vorgehen britischer Soldaten auf der anderen ging nach mehr als 30 Jahren mit dem Karfreitagsabkommen 1998 zu Ende. Doch die Spaltung der Gesellschaft, die tiefe Kluft aus Hass und immer noch gepflegter Feindschaft, ist noch längst nicht überwunden. Insofern kann der alte Konflikt, angeheizt durch die Brexit-Debatte, wieder aufflammen. Das sehen auch die Politiker in der Republik Irland. Deren Ministerpräsident Enda Kenny hat vorschnelle Vereinigungspläne zurückgewiesen. Eine Wiedervereinigung mit dem Norden zu einem späteren Zeitpunkt sei möglich, doch nur bei der Zustimmung der Mehrheit aller Nordiren.
Im Gegensatz zu Schottland ist das Ausscheiden Nordirlands aus dem Vereinigten Königreich einfach, weil die Zustimmung Londons zum Trennungsbeschluss nicht notwendig ist. Im Anhang des Friedensvertrages der ehemaligen Bürgerkriegsparteien ist 1998 festgeschrieben worden, dass die Zugehörigkeit zu Großbritannien vom Konsens der Bevölkerungsmehrheit abhängig ist. Eine einfache Mehrheit in einer Volksabstimmung würde daher für den Abschied reichen. Und der Eintritt in die EU? Der wäre einfach, denn Nordirland würde sich mit dem EU-Mitglied Republik Irland vereinen wie einst die Bundesrepublik Deutschland mit der DDR.
Wales als weiterer Bestandteil des Vereinigten Königreiches kennt keine Abspaltungstendenzen und bereitet London daher keine Sorgen. Und wie steht es um den Affenfelsen im Süden Spaniens? Mit überwältigender Mehrheit von 96 Prozent hatten die Menschen Gibraltars für einen Verbleib in der EU gestimmt. Das hat natürlich spanische Begehrlichkeiten geweckt. Spaniens Außenminister José Manuel Garcia Margallo meinte, es müsse nun entschieden werden, welches Verhältnis Gibraltar zur EU haben will, wenn es Zugang zum Binnenmarkt der Europäischen Union behalten möchte.
Sein Vorschlag sei eine "britisch-spanische Ko-Souveränität". Dieser Status solle für einen begrenzten Zeitraum gelten. Dann solle eine Rückgabe des Gebietes an Spanien erfolgen, so der Minister. Während dieser Zeit könnten die Einwohner Gibraltars rechtlich britische Staatsbürger bleiben und besondere Regeln für eine Besteuerung behalten. Doch alle spanischen Avancen an London, den Felsen endlich zurückzugeben, sind bislang auf taube Ohren gestoßen. Seit 1704 ist Gibraltar unter britischer Souveränität und auch der Brexit-Beschluss wird Großbritannien schwerlich dazu ermuntern, vom Felsen Abschied zu nehmen.