Kolumne Gott Und Die Welt Warum der Mythos von Europa leben muss

Am Ursprung unseres Kontinents steht der Raub der Königstochter durch Zeus. Das hat zwar nichts mit den Wahlen, aber manches mit unseren Werten zu tun.

Diese Frau ist sagenhaft. Vergnügt sich mit ihren Gefährtinnen am Strand des Mittelmeeres, bis sie erblickt wird von einem göttlichen Verehrer, der sich in einen Stier verwandelt und sie mit dieser List entführen kann. Weit übers Meer und bis nach Kreta. Diese Schicksals- und Gewaltgeschichte der schönen Europa und des besitzergreifenden Zeus ist ein antiker Mythos. Und wie bei jedem Mythos reicht das, was er erzählt, weit über seine Zeit hinaus.

Ein Mythos hört nicht auf zu leben. Doch er kann blasser werden, unscheinbarer, kann eine neue Gestalt annehmen und fast verschlungen werden von der Gegenwart. Das Europa, das am Wochenende millionenfach zur Wahl steht, ist ein Kind des politischen Pragmatismus. Und fast alles, was Gutes über diese große Idee des 20. Jahrhunderts gesagt wird, ist richtig. Die Staatengemeinschaft ist alternativlos. Zwischen Bewältigung der Euro-Krise und vorausschauender Sicherheitspolitik wirkt so ein Mythos ziemlich lästig, ach was: reichlich überflüssig. Es gibt eben viel zu tun, und alles scheint wichtiger zu sein als das uralte Schicksal einer holden Königstochter.

So begann auch der Staatenbund im Namen der Geraubten: mit der Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seitdem hat man den Eindruck, dass Zeus als Stier sich abermals verwandelt hat - in jenen Bullen nämlich, der an der Börse für steigende Kurse steht. Dieses Europa wird zum Sinnbild einer ökonomisierten Gesellschaft, die von der Notwendigkeit des Handelns beseelt und von der Frage nach seinen Werten genervt ist.

Wer auf einer Party seine Ruhe haben will, sollte in froher Runde die Frage nach der Identität Europas einwerfen. Vielleicht wird man gesellschaftsfähiger mit dem Hinweis, dass unser Kontinent einen matriarchalischen Ursprung hat; dass das Leben sich verwandeln kann und unsere Existenz in der Spannung zwischen Bewusstem und Unbewusstem steht - im Mythos stehen dafür der feste Strand und das unfassbare Meer.

Hat dieses Europa eigentlich Grenzen? Und ist das wünschenswert? Unsere Philosophie ist griechisch, unser Recht römisch - und unser Glaube christlich? Ein Reiz von Europa ist, dass es eine Herausforderung bleibt und Fragen an uns richtet, an Staaten wie an den Einzelnen. Ein guter Erfahrungsort dafür ist die Brücke von Istanbul, die über den Bosporus führt und - nah am Mittelmeer - den Okzident mit dem Orient verbindet.

Wir alle leben nicht voraussetzungslos. Und der Urnengang wird am Wochenende vorbei sein. Unser Leben aber führt weiter.

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(RP)
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