Was darf das Militär?

Das Bundesverfassungsgericht hat Einsätze der Bundeswehr mit Waffengewalt im Inland erlaubt, allerdings nur in "äußersten Ausnahmefällen". Fragen und Antworten zur Karlsruher Entscheidung.

Karlsruhe Darf die Bundeswehr auch im Inneren eingesetzt werden? Der gestern bekannt gegebene Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (Az.: 2 PBvU 1/11 vom 3. Juli 2012) war eine Plenarentscheidung der 16 Richter beider Senate. Bei der Auslegung des Grundgesetz-Artikels zum Streitkräfte-Einsatz bei besonders schweren Unglücksfällen werden "heutige Bedrohungslagen", sprich Terrorattacken etwa aus der Luft, ausdrücklich berücksichtigt. Fragen und Antworten zum Beschluss:

Wo regelt die Verfassung die Bedingungen zum Bundeswehr-Einsatz im Innern?

In den Artikeln 35 und 87 a. In Artikel 35, Absatz 2, Satz 2 heißt es unter anderem, dass bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall ein Bundesland die Hilfe der Polizei anderer Länder und der Streitkräfte anfordern kann. Nach Artikel 87 a, Absatz 4 dürfen prinzipiell Streitkräfte bei drohenden Gefahren für den Bestand des Bundes oder eines Landes angefordert werden.

Was ist neu an der jüngsten Rechtsprechung – die Bundeswehr hat doch schon häufiger im Innern geholfen?

Soldaten wurden beim Oder-Hochwasser 1997 eingesetzt oder auch bei der Flutkatastrophe in Hamburg 1962 – damals weitgehend ohne gesetzliche Grundlage auf Drängen des Innensenators Helmut Schmidt (SPD). Neu ist nun, dass auch ein Einsatz mit militärischer Waffengewalt im Innern verfassungskonform sein kann.

Wo sind dabei die Grenzen?

Karlsruhe hat sie sehr eng gesteckt, "auf äußerste Ausnahmefälle" beschränkt.

Was heißt das konkret?

Da ist Fantasie gefragt, denn das Gericht nennt keine konkreten Szenarien. Es spricht von "Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes", nur solche seien durch das Tatbestandsmerkmal "besonders schwerer Unglücksfall" in Artikel 35 gedeckt.

Hat das Gericht in erster Linie Terrorangriffe aus der Luft im Blick?

In erster Linie sicherlich Terror-Attacken durch Flugzeuge nach dem historischen Beispiel der Anschläge vom 11. September 2001. Aber auch Terroranschläge von einem Sprengstoff-Schiff, das etwa den Hamburger Hafen anläuft, sind im Bereich des Möglichen.

Dürfte die Bundeswehr ein Flugzeug, das nur mit Terroristen besetzt ist, vom Himmel holen? Oder einen sich nähernden Terroristen-Tanker versenken?

Ein derartiger Einsatz, der ausschließlich auf die Vernichtung der Angreifer zielte, wäre von der Verfassung gedeckt.

Wie ist es, wenn Terroristen einen Jet oder ein Schiff mit unschuldigen Passagieren kapern und größtes Unheil anrichten wollen?

Dann gilt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006, das einen Abschuss durch Bundeswehr-Kampfjets verbietet. Ein entsprechender Abschuss verstieße nach der berühmten Entscheidung gegen elementare Rechte der unschuldigen Passagiere auf Achtung der Menschenwürde (Artikel 1) und gegen das Grundrecht auf Leben (Artikel 2).

Liegt ein "besonders schwerer Unglücksfall" auch vor, wenn von einer fanatischen Menschenmenge schwere Gefahren im Innern ausgehen?

Nein. Laut Gericht stellen solche Gefahren für Menschen und Sachen keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne von Artikel 35 des Grundgesetzes dar.

Warum diese Einschränkung?

Der Beschluss verweist auf Artikel 87 a, Absatz 4 der Verfassung. Danach dürften Streitkräfte selbst zur Bekämpfung organisierter und bewaffneter Aufständischer nur dann eingesetzt werden, wenn eine Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes besteht.

Stützt Artikel 35, Absatz 2 und 3 generell die militärische Abwehr bei Gefährdung der Luftsicherheit?

Nein. Eine umfassende Gefahrenabwehr für den deutschen Luftraum mittels der Streitkräfte kann nicht auf besagten Grundgesetz-Artikel gestützt werden. Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel auch in größter Gefahrenlage nur als Ultima ratio, also als letzte aller denkbaren Möglichkeiten, zulässig sei.

Wer hat die Entscheidungsgewalt über diese letzte aller denkbaren Möglichkeiten?

Jedenfalls nicht der Verteidigungsminister. Die Entscheidung für den Einsatz gegen einen Terrorangriff liegt vielmehr bei der Bundesregierung als Kollegialorgan. Es ist auch nicht gestattet, dass die Bundesregierung für Eilfälle die Entscheidungsgewalt an ein Kabinettsmitglied delegiert.

Ist das nicht sehr unpraktisch?

Reinhard Gaier, einer von 16 Verfassungsrichtern, stellt in seinem von der Mehrheit abweichenden Sondervotum fest: Gefährdungslagen, denen effektiv nur mit dem Einsatz von Waffen mit Vernichtungskraft begegnet werden könne, seien dadurch gekennzeichnet, dass ihrer Beseitigung jede zeitliche Verzögerung abträglich sei. Konkret: Im Ernstfall käme eine Entscheidung der Bundesregierung womöglich zu spät.

Wann darf mit Militärgewalt vorgegangen werden?

Die Plenarentscheidung sagt dazu, dass der Unglücksfall bereits vorliegen müsse. Dann erfolgt eine Einschränkung: Dass der Unglücksfall bereits eingetreten sein müsse, bedeute nicht, dass auch der Schaden schon eingetreten sei. Voraussetzung für den Einsatz sei es, dass der Unglücksverlauf bereits begonnen hat und der Eintritt eines katastrophalen Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorsteht.

Welche Reaktionen gibt es?

Verteidiungsminister Thomas de Maizière (CDU) begrüßte die Rechtsprechung als bedeutend. Der Vorsitzende des Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), sagte: "Die Entscheidung holt die bisherigen Einsätze der Luftwaffe zur Abwehr drohender Gefahren aus einer verfassungsrechtlichen Grauzone heraus." Kritik kam von Grünen und Linken.

(RP)
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