Analyse Was in Frankreich auf dem Spiel steht

Berlin · Die Präsidentschaftswahlen, die nach Ostern im Nachbarland beginnen, haben viel auch mit Deutschlands Zukunft zu tun. Nach einer neuen Studie kommen auf den Wahlsieger tiefgreifende Reformen zu.

Analyse: Was in Frankreich auf dem Spiel steht
Foto: dpa, ME hjb

Bleich werden führende deutsche Politiker, wenn sie sich vorstellen, dass die Franzosen ein Staatsoberhaupt wählen, das dem "Brexit" den "Frexit" folgen lassen will, den Ausstieg Frankreichs aus der EU. Dann sei das europäische Projekt gestorben. Nicht von ungefähr gehen deshalb Europa-Freunde derzeit jedes Wochenende in vielen deutschen Städten auf die Straße - auch als Demonstration in Richtung Frankreich, wo am übernächsten Wochenende bereits entschieden wird, welche beiden Persönlichkeiten mit welchen Konzepten in die Stichwahl am 7. Mai geschickt werden. Elf Kandidaten sind übrig geblieben. Und der Abstand zu den beiden Favoriten, zur rechtspopulistischen EU-Gegnerin Marine Le Pen und zum unabhängig-liberalen EU-Anhänger Emmanuel Macron, wird immer kleiner. Die Wahl ist offen.

Der Linke Jean-Luc Mélenchon hat Erfolg mit seinem gegen die deutsche Stabilitätspolitik gerichteten Wahlkampf. Er ist den Favoriten dicht auf den Fersen mit Feststellungen wie der vom "starken Frankreich", das 18 Prozent der europäischen Wirtschaftskraft stelle und sich deshalb "gegen den deutschen Sparkurs auflehnen" könne. Ins gleiche Horn bläst der Sozialist Benoît Hamon, und er beruft sich dabei auf SPD-Chef Martin Schulz. Dieser habe bereits eingeräumt, dass der deutsche Wohlstand auf der Verarmung anderer Länder beruhe und es deshalb zu einer von Frankreich und Deutschland ausgehenden gemeinsamen Veränderung Europas kommen werde.

Dabei belegt eine neue, noch unveröffentlichte Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW), dass Frankreich an weiteren einschneidenden Reformen nicht vorbeikommt. Ein Jahrzehnt habe Frankreich bis 2005 in der Wirtschaftsentwicklung vor Deutschland gelegen, sei seitdem aber immer weiter zurückgefallen. Inzwischen stehe es bei der globalen Wettbewerbsfähigkeit auf Platz 21 von 138 Ländern und damit weit hinter Großbritannien (Platz 7) und Deutschland (Platz 5).

Große Probleme haben die Nachbarn mit der Arbeitslosigkeit. Sie stieg in der Amtszeit von François Hollande von 9,7 auf zehn Prozent (Deutschland derzeit: 6,2 Prozent). Als Arbeitslose registriert sind aktuell allein 654.000 junge Leute unter 25 und damit fast jeder Vierte in dieser Altersgruppe. Zugleich sind Frankreich und Deutschland nicht nur politisch als traditioneller Motor für die Entwicklung der EU, sondern auch wirtschaftlich eng verzahnt: Im vergangenen Jahr betrug der Wert der nach Frankreich verkauften Waren laut IW-Studie 101 Milliarden Euro. "Deutschland kann es demnach nicht kaltlassen, dass die Franzosen große wirtschaftliche Probleme haben", schreiben die Wirtschaftsforscher.

Sie sehen als Ursache die hohen Arbeitskosten und die strengen Regulierungen. Und sie verweisen auf die Finanzpolitik, die den französischen Schuldenberg auf zuletzt 2150 Milliarden Euro wachsen ließ. Selbst nach Abzug der Zinszahlungen sei der französische Haushalt weiter im Minus. Im vergangenen Jahr betrug die Verschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 96,4 Prozent. "Wenn die französische Wirtschaftspolitik hier keine Trendwende schafft, wird bald die magische Grenze von 100 Prozent überschritten sein", sagt die IW-Studie voraus. Maßgeblich seien die hohen Staatsausgaben, die 57 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachten (Deutschland: 44 Prozent), und in erster Linie die Sozialleistungen.

Neben der Verschuldung des staatlichen Sektors sei auch die Privatverschuldung deutlich gestiegen - im Unterschied zu anderen EU-Ländern auch noch nach dem Ende der Finanzkrise.

Reformen in der Hollande-Zeit sind vor allem mit dem Namen des früheren Wirtschaftsministers Macron verbunden. Er erleichterte Lohnsenkungen und Arbeitszeitausweitungen bei angeschlagenen Betrieben. Daran will er als Präsident anknüpfen und neben dem Arbeitsmarkt auch die Arbeitslosenversicherung und das Rentensystem reformieren.

Auch der einstmals als Favorit gehandelte Konservative François Fillon will die 35-Stunden-Woche wieder abschaffen und im großen Stil Stellen im öffentlichen Dienst streichen. Doch die Affäre um die Scheinbeschäftigung von Familienangehörigen hat seine Aussichten schwinden lassen. Anders bei der Kandidatin des Front National, Le Pen, deren eigene Beschäftigungsprobleme als Europa-Abgeordnete ihren Umfragewerten wenig anhaben konnten.

In ihrer Gegnerschaft zur EU können sich Le Pen von rechts und Jean-Luc Mélenchon von links die Hand reichen. Auch der einstige Sozialist will aus der EU austreten und die Wirtschaft mit einem 100-Milliarden-Investitionsprogramm ankurbeln. Sozialist Hamon steht für ein bedingungsloses Grundeinkommen, für neue Unternehmenssteuern und die weitere Anhebung des Mindestlohns. Auch der Linke Philippe Poutou liebäugelt mit Verstaatlichungen und Entlassungsverboten.

Die IW-Studie bescheinigt Fillons Wahlprogramm, die "weitestgehenden Veränderungen" zu wollen. Allerdings seien seine Wahlchancen deutlich gesunken. Positiv bewerten die Wirtschaftsforscher die Vorhaben Macrons, allem voran die altersabhängige Arbeitszeit, das flexible Renteneintrittsalter, die Steuerfinanzierung des Arbeitslosengeldes, steuerliche Anreize für unternehmerische Innovationen, geringere Sozialabgaben und deren Gegenfinanzierung durch Verbrauchssteuern. Das IW-Fazit: "Damit sind Reformvorhaben in der Diskussion, die mit den Empfehlungen internationaler Organisationen im Einklang stehen." Allerdings nennen es die Forscher "eher fraglich", ob die Franzosen auch die Kraft finden, diese Maßnahmen umzusetzen.

(RP)
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