Antisemitismus "Wehret den Anfängen" ist gescheitert

Berlin · Die Häufung antisemitischer Gewalttaten, von Drohungen und Mobbing ist nicht nur ein zufälliges Zusammentreffen von Einzeltaten. Die antijüdische Stimmung in Europa war nie weg, es brauchte nur einen Vorwand, um sie wieder aufkommen zu lassen.

 Demonstranten verbrennen eine Fahne mit Davidstern in Berlin (Archivbild Dezember 2017).

Demonstranten verbrennen eine Fahne mit Davidstern in Berlin (Archivbild Dezember 2017).

Foto: Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V./dpa

Entsetzen über den offenkundig antisemitisch motivierten Mord an der Holocaust-Überlebenden in Paris. Erschrecken über das Schlagen, Treten und Mobben jüdischer Schüler durch muslimische Klassenkameraden in Berliner Bezirken. Fassungslosigkeit über den 60-jährigen deutschen Passanten, der in Schöneberg einem jüdischen Restaurantbesitzer sagt, alle Juden würden in der Gaskammer landen. Alles Einzelfälle, die in diesen Wochen die Öffentlichkeit bewegen? Wird sich die Aufregung bald wieder legen, weil Polizei, Pädagogen und Politik die Auswüchse sicher schnell wieder in den Griff bekommen?

Statistiker und Demoskopen geben eine andere, bedrückende, ja alarmierende Antwort. Die Polizeistatistik weist für 2017 rund 1500 antisemitische Straftaten aus, nicht als Ausreißer, sondern als Standard: Wie auch in den Vorjahren werden in Deutschland täglich im Schnitt vier antisemitische Straftaten verübt. Nachfragen in jüdischen Gemeinden lassen auf eine hohe Dunkelziffer schließen. Denn nur jeder Fünfte zeigt es bei den Behörden an, wenn er angegriffen wurde. Und es wären wohl noch mehr Taten, wenn es den massiven Schutz nicht gäbe: Allein in Berlin werden mindestens 65 jüdische Einrichtungen rund um die Uhr bewacht.

Dabei gehörte es zu den Grundüberzeugungen im Nachkriegsdeutschland, nie wieder gewalttätigen Judenhass zu dulden. Seit Jahrzehnten geben sich Politiker auf allen Ebenen besonders am Jahrestag der Reichspogromnacht entschlossen, "den Anfängen wehren" zu wollen, damit in Deutschland "nie wieder" Synagogen brennen oder jüdische Kultur attackiert wird. Und dann listet die Statistik pro Jahr zwischen neun und 36 Angriffe auf Synagogen sowie Dutzende Schändungen jüdischer Friedhöfe auf. Wie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ist das kein rein deutsches Phänomen. Wachsenden Antisemitismus erleben auch die Briten, die Franzosen, die Österreicher.

Sie alle wollten nach dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden für alle Zeiten den Anfängen wehren. Wie konnte es passieren, dass das misslang? Zu den Gründen gehört eine falsche Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Ursachen.

Aus heutiger Sicht unbegreiflich ist die Übernahme von Handlangern des Nationalsozialismus in Justiz, Verwaltung, Ausbildung und Politik beim Aufbau der Bundesrepublik, verknüpft mit einer weitgehenden Tabuisierung des (nicht nur) im Nazi-Deutschland weit verbreiteten Judenhasses. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zwischen 1945 und 1949 beförderten den Eindruck einer ganzen Generation, dass es eine überschaubare Zahl von Nazi-Größen gewesen sei, die für den Genozid verantwortlich gemacht werden konnte. Erst mit vielen Jahren Verspätung kamen weitere Helfershelfer vor Gericht, konnte deutlich werden, wie der alltägliche Antisemitismus das Gefühl der Mitmenschlichkeit einer ganzen Gesellschaft auffressen und den Weg für Rassisten ebnen konnte.

Erst dreieinhalb Jahrzehnte nach den Momentaufnahmen mit den Bildern der Verbrechen in Auschwitz entstand im Zuge von Spielfilmerzählungen eine Welle emotionaler Erkenntnis, was der Holocaust war und wie er von jedem hätte erkannt und verhindert werden können. Daraus erwuchs jedoch ein Mechanismus von Rücktritt und Rausschmiss, sooft sich ein Funktionsträger auf dem verminten Gelände des Nazi-Vergleichs bewegte. Zurecht verwahrten sich Staat und Gesellschaft gegen jeden Versuch, die Dimension der Verbrechen zu relativieren. Selbst Bundestagspräsident Philipp Jenninger musste 1988 zurücktreten, nachdem er sich in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht bemüht hatte, über die Verurteilung des Holocausts hinaus den Weg in den Völkermord zu skizzieren und dabei einen Verständnis suggerierenden Tonfall gewählt hatte.

Darin kommt zugleich das ganze Dilemma der Nazi-Vergleichs-Automatik zum Ausdruck: Indem sich die Öffentlichkeit daran gewöhnte, jeden historischen Vergleich abzulehnen, verbaute sie sich die Möglichkeit, Parallelen zwischen den Anfängen jener verhängnisvollen Entwicklung und der aktuellen Wirklichkeit zu ziehen. Dabei hatte Bertolt Brecht absolut recht mit seiner Feststellung: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." Soziologen fanden über Jahrzehnte ein erschreckend hohes Ausmaß an fest verankertem Antisemitismus. So sprach der Kölner Forscher Alphons Silbermann von 15 Prozent der Bevölkerung mit manifestem Antisemitismus und weiteren 30 Prozent mit latentem Antisemitismus. Es bedurfte also nur eines Vorwandes, um antijüdische Stimmungen aufkommen zu lassen.

Einen Anlass lieferte das israelische Vorgehen gegen die Palästinenser. Israelkritik wurde auch im linken Spektrum bis weit in die Mitte hinein chic. Die permanent einseitige Darstellung trug dazu bei, dass konkrete und berechtigte Israelkritik immer wieder in generellen Antizionismus umzukippen drohte und damit einen Deckmantel für Antisemitismus zu liefern begann.

Zu den Lehren aus dem Nationalsozialismus gehört nicht allein die Abwehr von neuem Antisemitismus. Es ging darum, jede pauschale Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen nach Rasse oder Religion zu verhindern. Deutschland und Europa haben hier nicht den Anfängen gewehrt, sie sind mittendrin.

(may-)
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