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Europawahl Wenn die Demokratie zersplittert

Düsseldorf · Die Abschaffung der Sperrklausel bei der Europawahl gleicht einem vergifteten Geschenk. Denn ein Parlament muss funktionsfähig bleiben.

Die einen sagen zu der sich abzeichnenden Parteien-Zersplitterung des Europäischen Parlaments und kommunaler Räte salopp: "Jetzt haben wir den Salat." Oder auch in Abwandlung eines Sprichworts: "Viele Köche verderben den Parlamentsbrei." Andere reagieren klassisch und zitieren den antiken Vergil: "Timeo Danaos et dona ferentes" - "Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen." Seither gilt das "Danaergeschenk" als hochverdächtig und problematisch. Was gut gemeint aussieht, bringt dem Beschenkten nichts als Unheil.

Ist das Geschenk des Wegfalls der Sperrklausel (also einer Mindestprozentzahl, um überhaupt Abgeordnete in ein Parlament entsenden zu dürfen) ein Danaergeschenk höchster Richter an die Demokratie? Wird diese durch einen bunten Flickenteppich, bestehend aus allerlei politischen Gruppen, Grüppchen und bloßen Partei-Miniaturen, in ihrer Wirksamkeit beschnitten, am Ende nicht mehr handhabbar? In der griechischen Mythologie war das als Schadensbringer getarnte Geschenk der Danaer (bei Homer eine Bezeichnung für die Griechen) ein berühmtes hölzernes Tier: das "Trojanische Pferd". Mit Hilfe dieses Pferdes - im wahrsten Sinne ein Schlacht-Ross - überlisteten die Griechen die Trojaner (heute würde man sie blauäugig nennen) und eroberten deren Stadt Troja. Denn im Bauch des Danaergeschenks hatten sich griechische Krieger versteckt.

Gibt es in heutiger Zeit wieder einen Priester Laokoon ("Traut nicht dem Pferde, Trojaner!"), der ausruft: "Traut nicht Wahlrechtsgeschenken, die da heißen: Null-Prozent-Klausel?" Und: Spräche ein solcher Mahner wiederum gegen taube Ohren? Oder sind Laokoons anno 2014 gar nicht notwendig, weil es sich beim Wegfall der Sperrklausel um eine gute demokratische Gabe handelt, eben nicht um eine vergiftete?

Das Bundesverfassungsgericht ist selten so gescholten worden wie nach seiner Entscheidung Anfang dieses Jahres gegen die alte Drei-Prozent-Sperrklausel für Wahlen zum Europäischen Parlament. Karlsruhe öffne Splitterparteien die Tür nach Europa, hieß es, und die Kritiker setzten ein "Unverantwortlich!" hinzu. Nicht alle reagieren so gelassen wie der Trierer Politikwissenschaftler Joachim Schild. Er sagte der Zeitung "Trierischer Volksfreund", das Europaparlament sei immer schon mit großen Mehrheiten, sprich: großen Koalitionen, zu Beschlüssen gekommen. In wichtigen politischen Streitpunkten fänden zumeist die Volksparteien zu einer gemeinsamen Linie. Deshalb, so Schild, werde auch weiterhin eine Mehrheitsbildung im Parlament möglich sein.

Man könnte dem Politikwissenschaftler entgegenhalten, dass es gerade die beliebte Kooperation der Großen sei, im Rheinischen gerne "Kungelei" genannt, die das Resultat einer demokratischen Wahl mit vielerlei Parteien konterkariere. Man könnte das Problem auch so zuspitzen: Was denn wichtiger sei - die Beachtung parlamentarisch-politischer Praktikabilitäts-Erwägungen oder die möglicherweise sehr unbequeme, aber demokratisch lupenreine Abbildung des Wählerwillens, und führe dies auch zu Fraktions-Pepita, zu Kleinteiligkeit im Parlamentsalltag?

Die genervt klingende Reaktion des EU-Parlamentspräsidenten und Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten, Martin Schulz, wonach die Abschaffung der Sperrklausel durch das Gericht "die Arbeit erschwert", ist zwar nachvollziehbar, aber demokratisch anfechtbar. Natürlich kommt manches von dem Obskuren, das nun im Europäischen Parlament Sitz und Stimme haben wird, dem Einzug der politischen Pest in Straßburg und Brüssel gleich. Man darf jedoch zuversichtlich sein, dass diese "Pest" nicht ansteckend ist, dass sie vor allem den Parlamentsbetrieb nicht lahmlegt. Könnte es nicht sogar sein, dass ein demokratisch zu ertragendes extremes Partei-Ärgernis die Widerstandskraft der demokratischen, pro-europäischen Kräfte am Ende stärkt, dass also letztlich mehr statt weniger Immunität gegen gefährliche Keime herrscht?

Im Bundestag gibt es seit der Wahlrechtsreform von Juni 1953 die Fünf-Prozent-Hürde. Eine Partei muss mindestens ein Zweitstimmen-Ergebnis von fünf Prozent erzielen, damit sie Abgeordnete nach Berlin entsenden kann. Aber davon gibt es eine Ausnahme: Schafft eine Partei zwar bloß 4,9 Prozent, setzt sich aber via Erststimme ihr Kandidat im Wahlkreis durch, fällt dieses Direktmandat nicht durch den Rost. Der Erststimmen-Sieger wird Parlamentarier. Bei Landtagswahlen gibt es ebenfalls die Fünf-Prozent-Hürde, die man überspringen muss, um als Volksvertreter ins Landesparlament zu gelangen.

Die Fünf-Prozent-Hürde soll für demokratische Stabilität sorgen. In der Weimarer Republik (1919-1933) hatte man miserable Erfahrungen mit einem Parteien-Allerlei im Reichstag gemacht. Schließlich nutzten die bedrohlich erstarkende Nationalsozialisten das Missbehagen in der Bevölkerung über die zersplitterte "Quasselbude" (das war Hitlers und Goebbels' Jargon) zu der verführerischen Parole: Wir oder das Chaos.

Das "Nie wieder!" der Nachkriegszeit mündete auch in die Entscheidung, es randständigen Kleingruppen nicht mehr so leicht zu machen, den Parlamentarismus von innen her zu torpedieren. So wie allzu große Toleranz gegenüber organisierter Intoleranz zum Sieg Letzterer führen kann, man also gut beraten ist, zwar tolerant, aber nicht blöd zu sein, so müsste auch beim Für und Wider am Ende die Sperrklausel gelten: Demokratie muss funktionstüchtig organisiert werden - im Bund, in den Ländern, auf kommunaler Ebene und besonders auch im Europäischen Parlament, dessen Arbeit für uns Europäer überwiegend im Halbschatten liegt.

Wenn es darauf hinausliefe, dass demnächst wie einst in Weimar 20 oder 30 Splittergruppen der Demokratie ihre Geschäftsfähigkeit nähmen, würde es noch schwieriger, gemeinsame europäische Politik zum Nutzen der 500 Millionen EU-Europäer ins Werk zu setzen. Das "E pluribus unum" ("Aus vielem eines") auf der Ein-Dollar-Note klingt zu schön, um wahr zu sein.

(RP)
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