Berlin Wer will hier regieren?

Berlin · Die Grünen bewegen sich auf schmalem Grat: Noch haben Befürworter einer Jamaika-Koalition die Oberhand über Skeptiker.

 Skepsis gegenüber einer Jamaika-Koalition zeigen vor allem Jürgen Trittin und Simone Peter.

Skepsis gegenüber einer Jamaika-Koalition zeigen vor allem Jürgen Trittin und Simone Peter.

Foto: dpa (3), Imago, Grafik: Schnettler

Claudia Roth ist für die Grünen auch nach ihrem Rückzug 2013 die Parteivorsitzende der Herzen geblieben. Fast einstimmig nominierte die neue Bundestagsfraktion die 62-Jährige am Dienstag erneut für das Amt der Bundestagsvizepräsidentin. Minutenlang hätten sich die Grünen anschließend selbst für diese einmütige Entscheidung gefeiert, berichteten Teilnehmer. Roth sei "genau die richtige Kandidatin, wenn in diesen neuen Bundestag Rechtsradikale und Feinde der weltoffenen Gesellschaft einziehen", freute sich Fraktionschef Anton Hofreiter.

Harmonie und Geschlossenheit haben sich die Grünen geschworen. Das ist ihnen im Wahlkampf gelungen - und das gilt nun umso mehr. Die Aussicht auf eine Jamaika-Koalition mit Union und FDP soll sie auf keinen Fall auseinanderreißen. Es ist ein schmaler Grat, auf dem die Grünen balancieren: Auf der einen Seite die Chance, nach zwölf Jahren Opposition endlich wieder Gestaltungsmacht in einer Bundesregierung zu erhalten. Auf der anderen das Risiko des politischen Selbstmords, wenn der Koalitionsvertrag zu wenig eigene Inhalte enthält oder sich nach vier Jahren herausstellen sollte, dass die Grünen ihre Chancen nicht nutzen konnten, weil sich Schwarz-Gelb als übermächtig erwiesen hat.

Der Flüchtlingskompromiss von CDU und CSU vom Sonntag stellt die Grünen auf eine erste große Probe. Parteichefin Simone Peter, die dem linken Parteiflügel angehört, lehnt sich weit aus dem Fenster und erklärt, der von der Union beschlossene Richtwert von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr "kommt einer Obergrenze gleich", die Beschlüsse liefen den Positionen der Grünen zuwider. Jürgen Trittin, ebenfalls von den Parteilinken, meldet sich wenig später ebenfalls mit deutlicher Kritik zu Wort, während sich Parteichef Cem Özdemir auffallend zurückhält.

Trittin wirft der Union vor, "urchristliche Werte" zu verleugnen, weil sie den Familiennachzug für Flüchtlinge dauerhaft aussetzen will. Doch anders als Peter ist Trittin geschickt genug, nicht weiter zu gehen, als es die verabredete Sprachregelung gerade noch zulässt. Auch Trittin spricht wie Özdemir und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt von einem unzureichenden "Formelkompromiss" der Union.

In der Fraktionssitzung am Dienstag bleibt offene Manöverkritik an Trittin jedenfalls aus. Über Simone Peter dagegen, deren Chancen auf eine Wiederwahl zur Parteivorsitzenden gering sind, äußern sich einige verärgert. Die Grünen diskutieren ausführlich, wie kluges Reagieren auf Union und FDP funktioniert, welche Linie sie fahren sollen. Müssen sie wie Trittin eigene Positionen härter vertreten und sich stärker abgrenzen? Oder wäre es besser, pragmatisch wie Özdemir zu bleiben, um so am Ende mehr eigene Inhalte durchsetzen zu können?

Parteilinke wie der Haushaltssprecher Sven-Christian Kindler teilen die Haltung Trittins, dass gerade jetzt nicht der Moment für Zurückhaltung oder gar Unterwürfigkeit gegenüber Schwarz-Gelb sei. "De facto hat sich Seehofer gegen Merkel durchgesetzt", sagt Kindler. "Die Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr, die sie so nicht nennen, die Ausweitung von sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, die weitere Aussetzung des Familiennachzugs, die Abschiebelager an der Grenze - das sind alles Punkte, die wir Grüne klar ablehnen."

2013, lautet eine von zwei Erzählungen, sei es Trittin gewesen, der ein schwarz-grünes Bündnis verhindert hat. Heute halten es die meisten Grünen für unvorstellbar, dass sich das wiederholt. Dazu wäre die Hausmacht Trittins dann doch nicht mehr groß genug. Sollte aber der linke Flügel zu dem Schluss kommen, dass im Koalitionsvertrag zu wenig Eigenes zu den Themen Flüchtlinge, Soziales und europäische Integration steht, dann könne es doch wieder entscheidend sein, ob Trittin den Daumen senke, sagt eine Abgeordnete vom linken Spektrum. Dass es wieder auf ihn ankommen könnte, wissen sie. Deshalb sitzt Trittin im 14-köpfigen Sondierungsteam, das ab nächster Woche die Gespräche führen wird.

Skeptikern wie Trittin steht eine große Menge Grüner gegenüber, die das Jamaika-Experiment wagen möchten, viele von ihnen vom moderaten Realo-Flügel. Schon am Wahlabend war das zu spüren. "Wir Grüne fürchten weder Tod noch Merkel", sagt Außenpolitiker Omid Nouripour. Doch auch der linke Fraktionschef Hofreiter findet, dass er nicht vier Jahre warten kann mit dem Regieren, weil dann die Klimaschäden schon unumkehrbar seien.

Um die Partei mit nach Jamaika zu nehmen, bereiten Özdemir und Göring-Eckardt sie akribisch vor. Schon vor Beginn der Sondierungen treffen sich die Grünen an jedem Tag dieser Woche mit Interessenverbänden, angefangen vom Gewerkschaftsbund bis zu Umwelt-, Sozial- und Mittelstandsverbänden. Elf Vorbereitungsgruppen mit jeweils zehn Teilnehmern aus Bund und Ländern wurden gebildet, die der Sondierungsgruppe zuarbeiten.

Eine, auf die es auch ankommen wird, ist Claudia Roth, ebenfalls Teil des Sondierungsteams. "Wenn sich Claudia auf dem nächsten Parteitag mit ihrer großen Glaubwürdigkeit hinter die Flüchtlingsbeschlüsse stellt, ist das ein ganz starkes Signal für uns alle", sagt eine Abgeordnete.

(mar)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort